Kapitel 6

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Mirabelle

„Ich heiratete Wayne und konnte ihm nicht einmal in die Augen blicken.

Jede seiner Berührungen ließ mich zusammenschrecken und die einzige Person, nach der mein Herz bei der Zeremonie schrie, war Dorian.

Ich sehnte mich so sehr nach ihm, dass ich fast verrückt wurde. Warum konnte er nicht mein Prinz sein?

Am liebsten hätte ich mich von Wayne losgerissen und wäre aus dem Tempel gestürmt. Eine Hochzeit war doch dazu da, jemanden zu heiraten, den man liebt. Doch das Königshaus schien es bloß als ein Abkommen, eine Allianz zu betrachten.

Seit Wayne mich im Garten gefunden hatte, waren seine Blicke sanfter geworden. Er lächelte, wenn er mich sah. Vielleicht hätte ich ihn in anderen Zeiten auch mein Herz geöffnet, doch jetzt spürte ich nur noch die Kälte, die einen leeren Platz in mir ausfüllte.

Wenn ich abends in den Spiegel sah, konnte ich mich kaum mehr wiedererkennen. Die junge Frau, die mich anblickte war von der Zeit gezeichnet.

Mit jedem Abend waren meine Schatten unter den Augen tiefer geworden und mein Haar wurde immer heller. Als würden seine Erinnerungen mir all meine Kraft rauben.

Und dann waren da die Augen des Spiegelbilds. So kalt und gebrochen, wie ich sie noch nie gesehen hatte. Fast schon schämte ich mich dafür mich anzusehen.

Meine einzige Hoffnung wurden die Bücher, die ich regelrecht verschlang. In meiner privaten Bibliothek verbrachte ich die meiste Zeit, wenn ich nicht zum Unterricht musste.

Ich blickte aus dem Fenster in Waynes und meinem gemeinsamen Zimmer, als ich ihn plötzlich hinter mir spürte.

Als ich mich umdrehte lächelte er schief. Ich konnte es nicht erwidern. Er setzte sich neben mich und ließ seinen Blick ebenfalls kurz zum Fenster gleiten.

„Ich weiß wie du dich fühlst, Mira." Flüsterte er und sah wieder in meine Augen. Er rutschte ein Stück näher und ich automatisch zurück.

Trotzdem legte er seine Hand an meine Wange, wobei ich zusammenzuckte. „Was bei allen Göttern tust du da?" wollte ich fragen, doch ich kam nicht mehr dazu.

Er legte seine Lippen auf meine und ich war so überrascht, dass ich es erst begriff, als er sich von mir löste.

Ich atmete tief ein, sprang auf und zischte: „Ich habe dir gesagt, dass ich dich nicht lieben kann, also tu das nie wieder!" ich erschreckte vor meiner eigenen, scharfen Stimme und musste meine Hände ballen, damit er mein Zittern nicht sehen konnte.

Mit wenigen Schritten war ich auf dem Gang und hörte wie Nevis mir folgte. Mit wehendem Kleid und erhobenen Haupt schritt ich ihn entlang und spürte die überraschten Blicke der Hofdamen, Diener und Soldaten auf mir ruhen.

Es war die ganze Zeit gewesen, als hätte dieser Ort mir die Luft abgeschnürt, doch in dem Moment spürte ich nur noch das erbebende Gefühl der Macht in meinem Herzen.

Meine Beine trugen mich zu Lysander, nachdem er mich bei der Kutsche um ein Gespräch gebeten hatte, hatte er mich gemieden.

Ich konnte es nicht mehr ohne ihn ertragen. Doch bevor ich an seine Tür klopfen konnte hielt ich inne. Ich wusste nicht, was er von mir halten würde, was er denken würde.

Vielleicht wusste er nicht mal mehr, wer ich war.

Ich nahm allen Mut zusammen und klopfte gegen das dicke Holz, welches mich von ihm trennte.

Als sich die Klinke hinunterdrückte zog sich mein Magen zusammen. Augen wie warme Seen blickten mir entgegen, er öffnete die Tür noch einen Spalt breit.

AbluvionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt