Kapitel 5

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Mirabelle

„An dem Abend erzählte ich den Beiden zum letzten Mal eine Geschichte und es zerriss mir fast das Herz, sie alle nie wiedersehen zu können.

Auch Carlee fiel es schwer, das sah ich ihr an und wir machten alles bereit um am nächsten Morgen sofort wegreiten zu können.

In der Nacht konnte ich nicht schlafen, die meiste Zeit lag ich da und starrte in die Dunkelheit. Schließlich erhob ich mich und trat zu einem Fenster.

Es sollte meine letzte Nacht im Norden sein. Ich blickte in den Sternenklaren Himmel und Tränen schossen in meine Augen.

Ob meine Mutter vielleicht auf mich hinuntersah? Enttäuscht? Ob man sie bereits beerdigt hatte? So viele Fragen schossen in meinem Kopf herum, doch ich verbot mir an sie zu denken.

Der Preis, den ich für die Lehre der Magie zahlen musste, war meine Familie. Es war mir von Anfang an bewusst gewesen.

„Normale Menschen sollten keine Magie lernen." Hatte ein Klassenkamerad zu mir gesagt, doch damals hatte er meinen Ehrgeiz nicht ersticken können.

„Mira." Murmelte Carlee nun müde. „Du musst schlafen, sonst schaffst du den Ritt morgen nicht." „Du hast recht." Flüsterte ich zurück und legte mich wieder neben sie. Doch es dauerte, bis ich in den Schlaf fiel.

Es kam mir, als hätte ich bloß Sekunden geschlafen, es war nicht mal heller geworden. Und es fiel mir schwerer als je zuvor die Reitkleidung anzuziehen.

Marina weinte, als ich sie umarmte und ihr einen Stapel mit Zetteln gab. Ich lächelte, als sie mich fragend ansah.

„Ich habe die ein paar der Legenden aufgeschrieben. Dann kannst du weiterhin das Lesen üben und die Geschichten am Abend müssen nicht ausfallen." Wieder rannen ihr Tränen über die Wangen und ich umarmte sie erneut.

Dann stand ich auf und Carlee kniete sich vor sie. „Pass auf alle auf, in Ordnung?" die Kleine nickte beherzt und ich verabschiedete mich von Amaranda. Paul schlief noch.

Wir holten die Rentiere aus den Ställen und sie trabten fröhlich auf die Straße. Wir schwangen uns auf und ich stellte fest, dass es aufgehört hatte zu schneien.

„Los." Befahl Carlee und gab ihrem Tier die Sporen. Dann schien mein Herz stehen zu bleiben. Hinter mir hallten Hufschläge wieder. Mit einem Seitenblick stellte ich fest, dass es Soldaten waren.

„Hinter uns!" rief ich so laut, dass nur sie es hören konnte und sie drehte sich um. „Verdammte..." murmelte sie und gab dem Rentier einen kleinen Hieb, es wurde noch schneller.

Ich tat es ihr gleich und holte sie ein. „Was auch immer passiert, wir werden nicht aufeinander warten." Wisperte ich und sie nickte. „Wer es schafft, der schafft es, wer nicht, der nicht." Ich schluckte.

Mein ganzer Körper glühte vor Adrenalin und daran konnte auch die Kälte nichts ändern.

Doch dann kam eine Abzweigung. Der rechte Weg verdeckt aber voller Schnee und Bäumen, der linke offen aber geräumt.

„Links!" schrie ich und sie gleichzeitig „Rechts." Ein letzter Blick, dann verschwand sie im Gehölz. Verdammt.

Trotz der Angst behielt ich Ordnung in meinem Kopf. Bitte, bitte lasst es mich schaffen. Wiederholte ich immer wieder und presste meine Lippen auf einander. In der Hoffnung es könnte irgendetwas bewirken, lehnte ich mich tiefer zum Hals meines Rentiers.

Doch die Erkenntnis überrollte mich, wie eine Lawine. Ich würde es niemals schaffen können. Sie hatten geübte Rentiere und ich eines, welches Tagelang im Stall gestanden hatte. Sie waren zu fünft, ich war nun allein.

AbluvionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt