Lysander

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Eine Wochen vor Ende des Kriegs

Lysander

Schneeflocken tanzten durch die Luft. Wild aber dennoch mit einer solchen Sanftheit, dass es wehtat, zuzusehen, wie sie auf dem Boden verendeten. Als matschiger Haufen am Straßenrand.

Ich fing eine Schneeflocke auf und war mit einem Mal froh, dass ich Handschuhe anhatte, denn so schmolz sie wenigstens nicht ganz so schnell.

Eine Kutsche fuhr durch die graue Pampe am Straßenrand. Sie erinnerten mich daran, warum ich überhaupt in Ariel war. Also pustete ich die Flocke zurück in die Luft und setzte meinen Weg zum Hafen fort.

Zuerst unterzeichnete ich die Fracht und überprüfte die Tonnen an Perlen und Muscheln. Dann zahlte ich der Kapitänin ihren Lohn aus und versprach ihr, dass Mirabelle das nächste Mal kommen würde. Das Lob des Stellvertreters der Königin schien ihr wohl nicht zu reichen.

Als ich wieder nach draußen ging, war es noch eine Spur kälter geworden. Ich zog meinen Mantel noch enger und stapfte zu dem nächsten Hafenbüro, in dem ich Anerkennungen für einige Bürger und Bürgerinnen aus Ariel unterzeichnen sollte.

Mit meinem Siegelring drückte ich Muster in das heiße Wachs und unterzeichnete alles im Namen meiner Königin.

Ich war so unendlich froh, dass ich mich bisher nur um die Formalitäten kümmern musste und noch keinen Streit zwischen Adeligen schlichten musste. Geschweige denn eine Rede zu halten, um die Hoffnung der Menschen, jetzt im Krieg, aufrecht zu erhalten.

Mein Blick glitt durch das Fenster bis auf die Straße. Der kleine Schneesturm hatte aufgehört und nun stoben die Flocken nur noch vereinzelt durch die Luft.

Ich konnte mich für Stunden im Schnee verlieren. Diesem Tanz zusehen. Aber nicht jetzt, ermahnte ich mich. Nach 31 Unterschriften und Stempeln war ich auch damit endlich durch. Zum vierten Mal an diesem Tag fragte ich mich, warum Mira solche Dinge immer noch selbst erledigte.

Reichte ihr dieses Machtspiel mit den Adeligen denn nicht? Ich hatte mich bereits nach vier Tagen im Schloss davor gegrault. Dabei war ihr Hass auf mich nicht einmal so stark, wie der auf Mira.

Mir konnten sie schließlich keine gottlose Herkunft oder die angebliche Schwäche einer Frau vorwerfen. Doch für sie schien es kein Problem zu sein, sich immer wieder neue Gründe für ihren Hass auszudenken.

Diesmal, weil ich zu unerfahren war. Witzig. Weil sie alle auch schon einmal ein Land regiert hatten.

Nein, darüber nachzudenken, war sinnlos. Sich darüber aufzuregen, war sinnlos. Also hob ich den Stapel von Papier hoch und drückte ihm dem Sekretär des Bürgermeisters in die Arme.

„Danke, hochverehrter Stellvertreter des Königpaars. Richtet ihnen unseren schillernden Dank aus." Ich nickte bloß, deutete eine kleine Verbeugung an und schritt die Treppen hinunter.

Schillernder Dank. Diese Wortwahl konnte nur aus Ariel stammen. Ich konnte mir ein Lächeln kaum verkneifen.

Mein Pferd wartete beim Gasthaus, am Rand der Stadt auf mich. Doch es machte mir nichts durch den Schnee zu laufen. Ganz im Gegenteil.

Ich war dankbar für die Zeit, die ich für mich allein hatte. In der ich mich nicht irgendwelchen Machtkämpfen stellen oder zuversichtlich und gleichzeitig undurchdringlich aussehen musste.

Plötzlich gewann ein verschnörkeltes Ladenschild meine Aufmerksamkeit. Einer spontanen Eingebung folgend, betrat ich das Geschäft.

„Moin." Grunzte der klobige Mann hinter dem Tresen, blickte allerdings nicht von seiner Zeitung auf.

Überall standen Modell-Segelschiffe herum und ich fragte mich schon, was ich hier machte, als ich plötzlich einen Stapel mit Blättern entdeckte. Es war Briefpapier mit eleganten Verzierungen an den Rändern.

Ich kaufte einen Stapel und grade, als der Mann mein Geld zählte, blickte er mit zusammengezogenen Augenbrauen zu mir auf. „Ick kenn' dik doch!" Seine Augen weiteten sich. „Du... Ihr seitst doch der Stellvertreter unserer Königin!" Nicht schon wieder. Nervös richtete ich meinen Blick aus dem Fenster und...

Nein. Niemals.

Als würden die Schneeflocken ihren Tanz in meinem Herzen weiterführen. Das Hasen-Mädchen. Die Frau, die ich vor knapp einem Jahr im Gedränge eines Maskenballs verloren hatte.

„Nala!" Ich vergaß alles, selbst das Briefpapier. „Nala!" Ich stürzte aus der Tür auf die Straße. Sie drehte sich um.

In ihren Haaren hatten sich Schneeflocken verfangen. Ihre Augen waren immer noch so atemberaubend, wie am Abend des Balls.

„Lysander." Flüsterte sie und schüttelte ihren Kopf. Die Verwirrung stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben, doch ich hoffte auch eine Spur Freude zu erkennen.

Ich fühlte mich so gelähmt.

Ich. Hatte. Sie. Wieder.

Nach einem Jahr. Nach unzähligen Versuchen, sie wiederzufinden. Nach Wochen der Einsamkeit, der Sehnsucht.

Und nun? Ich hatte immer davon geträumt, sie wiederzusehen aber nie daran, was ich tun sollte, wenn ich es tat.

Plötzlich hörte ich Nathans Worte in meinem Kopf. Lysander, wenn du jemals ein Mädchen bekommen willst, dann solltest du dich einfach mal etwas trauen. Überrasche sie und hör auf, den Schüchternen zu spielen.

Und klar, ich hatte eigentlich nie vor, auf Nathan zu hören. Doch in dem Moment, als die Glocken des Ladens erneut erklangen, war es, als würden sie mich aus meiner Starre reißen.

Ich tat das, was ich schon seit dem Moment, in dem wir uns zum ersten Mal gesehen hatten tun wollte. Was ich am liebsten getan hätte, als sie in meinen Armen geweint hatte. Für dieses hätte, hatte ich mich unzählige Nächte immer wieder verflucht.

Mit zwei Schritten war ich bei ihr und ich küsste sie.

Es waren drei Tänze, ein Jahr und einige Atemzüge vergangen, doch das zwischen uns hatte sich nicht geändert.

Die Zeit verflüssigte sich. Sekunden. Stunden. Jahre. Es war egal.

Dennoch löste ich mich irgendwann atemlos von ihr. Ihr Blick blieb an meinen Augen hängen. „Lysander."

„Öhm.. ick will euck ja net stören aber..." hörte ich den Verkäufer hinter mir. Er stand in der Tür und wedelte mit meinem Briefpapier herum. Strahlend nahm ich es und steckte es in meine Tasche, dann drehte ich mich wieder zu Nala um.

Sie starrte mich immer noch an und schüttelte dann ihren Kopf. Ihre Lippen waren von unserem Kuss gerötet, genauso wie ihre Wangen.

Sie fiel mir um den Hals, als wäre ich ein Fels, der sie vor dem Ertrinken bewahren könnte. Sie lachte, weinte und flüsterte in meine Schulter und ich hielt sie fest.

Hielt meine Nala fest. Genauso, wie in der Nacht des Balls. Doch diesmal beschloss ich, sie nie wieder gehen zu lassen.

AbluvionWo Geschichten leben. Entdecke jetzt