"Wie Du nur unschwer an meiner Handschrift erkennen kannst, bin ich es, der Dir schreibt. Ich gebe Dir diesen Ring. Vielleicht erkennst Du ihn noch. Vielleicht aber auch nicht. Wenn nicht, so helfe ich Dir jetzt auf die Sprünge. Diesen Ring gab mir unsere Mutter. An dem Tag, als sie den Unfall hatte. Ich sollte ihn behalten. Aber heute, nachdem der Unfall schon über 10 Jahre her ist, will ich, dass Du ihn bekommst. Es ist vielleicht nicht der beste Moment für mich um sich zu melden, aber es ist immernoch besser als nie. Ich habe mich nach dem Unfall von allem und jedem abgeschottet, habe mich völlig verschlossen und habe ausnahmslos niemanden an mich gelassen. Ich habe mich geändert. Sehr. Du Dich bestimmt auch. Aber eines ist noch immer gleich. Ich liebe Dich, mein Bruder. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht an Dich oder unsere Mutter denke. Mehr wollte ich nicht sagen. Dein Jonathan."
Raffi hat seine Mutter verloren, und ich meinen Vater bei ein und demselben Autounfall. Das ist mittlerweile mehr als 10 Jahre her. Raffi hat einen Bruder. Einen jüngeren. Seit der Beerdigung habe ich ihn nicht mehr gesehen. Soweit ich weiß, hat Raffi auch keinen Kontakt mehr zu ihm. Ich erinnere mich nicht mehr an den Namen seines Bruders. Vielleicht handelt es sich um ein und dieselbe Person.
Ich weiß nicht warum, aber ich fühle mich verpflichtet, diesen Jonathan zu finden und ihm das hier zurück zu geben. Ich weiß nur nicht, wie ich das anstellen soll.
Ich gehe, nachdem ich mir was angezogen habe, zu Raffi und zeige ihm den Brief. Er sieht mich traurig und in Erinnerungen gefangen an. "Kann das Dein Bruder sein?" frage ich ihn. "Theoretisch ja." sagt er und nickt als Unterstreichung seiner Worte. "Die Schrift ähnelt seiner, der Name stimmt. Und an den Ring kann ich mich erinnern. Sehr gut sogar." Ich weiß nicht, was ich sagen soll. Deswegen setze ich mich neben ihn auf sein Bett und kraule seinen Kopf und seinen Nacken. In all den Jahren der Freundschaft lernte ich, dass ihn das beruhigt. "Ich muss frische Luft kriegen. Bis später." sagt er und geht in den Flur, zieht sich Schuhe an. "Trägst du bitte den Ring? Behalte ihn bitte bei dir." Ich sehe ihn fragend an, stelle aber keine Frage. "Wir müssen ihn finden." sagt er und geht raus.
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Die Sammlung meiner Werke
Short StoryIn diesem Buch, oder in dieser Sammlung, veröffentliche ich meine Kurzgeschichten. Personen, Orte etc. sind frei erfunden. Alle Werke vom Jahr 2019 sind hier drinnen festgehalten.