[4]

1.6K 58 14
                                    

Ich war so sehr mit meinen Gedanken beschäftig, dass ich die Person vor mir erst bemerkte, als ich schon mit ihr zusammenstieß.

„Perdona (Entschuldigung)", murmelte ich hastig ohne die Person richtig anzuschauen und wollte schon weiter gehen, als ich am Arm gepackt und herumgerissen wurde.

„Chica ¿que estás haciendo aqui? Es tan peligroso para ti. (Mädchen, was machst du hier? Es ist zu gefährlich für dich.)", zischte mir der vor mir stehende Typ zu. Er hielt mich immer noch ziemlich stark fest, also zog ich meinen Arm zu mir und er ließ mich los. Schnell wischte ich mir mit der Hand über die Augen, damit er meine Tränen nicht bemerkte.
Ich musterte ihn und versuchte dabei genervt auszusehen, denn ich wollte vermeiden, dass er merkte wie aufgelöst ich eigentlich war.
Er trug einen schwarzen Hoodie, dessen Kapuze er sich aufgesetzt hatte, schwarze Jeans und schwarze Sneaker. Auch seine Haare waren - soweit ich das erkennen konnte - entweder dunkelbraun oder schwarz. Wahrscheinlich waren seine Augen genau so dunkel wie seine restliche Erscheinung.

„Kannst du bitte Englisch reden?"
Natürlich hatte ich verstanden was er gesagt hatte. Aber ich war gerade einfach nicht in der Lage korrektes Spanisch aus mir herauszubekommen.

Er schaute mich mit einem Blick an den ich nicht deuten konnte. Dann ging er einen Schritt auf mich zu und legt seine Hand auf meine Schulter. Automatisch ging ich einen Schritt zurück.
Konnte er mich nicht in Ruhe lassen?

„Hör zu, du solltest lieber von hier verschwinden. Das ist kein Ort für Mädchen wie dich.", sagte er eindringlich und etwas leiser zu mir während sein Blick unruhig über die leere Gasse glitt, in der wir uns befanden.
Er war nervös.
Das beunruhigte mich zugegebenermaßen. Er schien sich hier auszukennen und wenn nicht einmal er entspannt war?
Wie dumm konnte ich nur sein, in einer mir unvertrauten Stadt blind durch die Gegend zu rennen.

„Ok.", sagte ich nur ohne ihn anzuschauen. Sein Blick beunruhigte mich einfach zu sehr.
Eigentlich wollte ich jetzt gehen, aber ich wusste nicht mehr genau in welche Richtung. Verunsichert sah ich mich um, dich hier waren einfach zu viele enge Straßen mit mehreren Abzweigungen die alle gleich auszusehen schienen. Ich hatte einfach keine Ahnung welcher der richtige Weg zurück war.
Mist.
Wie konnte mir das passieren?
Ich wusste doch genau, dass man nicht unüberlegt handeln sollte, vor allem nicht wenn man unter Einfluss von starken Gefühlen stand.

Der Typ vor mir hatte das wohl bemerkt.
„Weißt du überhaupt wo du hin musst?"

„In die Richtung irgendwo.", murmelte ich und zeigt hinter mich.
Ich kam mir ganz schön blöd vor. Was machte ich bitte für einen Eindruck auf ihn? Ein verheultes Mädchen in irgendeiner Seitenstraße einer Großstadt und jetzt wusste sie nicht mehr wie sie zurück zu ihren Freunden kommen sollte.

„Aha", meinte er nur und verschränkte seine Arme „wo musst du denn hin?"

„In mein Hotel am besten. Es heißt la aguila. Mit Google Maps komme ich da bestimmt hin. Ganz sicher. Das sollte ich schon noch hinbekommen.", versuchte ich ihn zu überzeugen. Ich vertraute Fremden nicht. Nie. Auch wenn er bis jetzt nicht auf irgendeine Weise gefährlich gewirkt hat. Aber vielleicht war ja gerade das das Gefährliche?
Er wirkt ganz harmlos, man lässt sich auf ihn ein und zack, man wird entführt.

„Das kannst du vergessen.", sagte er und packte mich am Arm, immerhin nicht so grob wie vorhin „Ich bringe dich dort hin. Weißt du überhaupt wo du dich hier befindest?"

„In Guadalajara?", riet ich scherzend während ich widerwillig mit ihm mitlief. Es hatte wohl keinen Sinn zu versuchen ihn loszuwerden.

„Witzbold", grummelte er und schaute weiterhin konzentriert auf die Gegend vor uns „Wir sind hier im Gebiet der Nuestra Famila."

„Nuestra Familia? Ist das nicht irgend so eine Drogenbande?", fragte ich erschrocken und blieb abrupt stehen.
Wie hatte ich so sehr in meine Gedanken an Jack vertieft sein können, dass ich total vergessen hatte wie gefährlich Mexiko sein kann?
Ich verfluchte mich innerlich schon zum gefühlt zehnten Mal.

„Genau. Und zu deinem Glück beschäftigen sich die gnädigen Jungs der Gang ausnahmsweise nicht mit Menschenhandel, sondern nur mit Mord.", zischte der Typ und zog mich weiter.
Ich hatte keine andere Wahl als ihm zu folgen und stolperte ihm hinterher.

„Puh, da bin ich ja froh.", antwortete ich sarkastisch. Ich hoffte, er würde so immerhin nicht merken wie mich das beängstigte. Nun war ich mehr als nur froh, dass er mich begleitete.

Darauf erwiderte er nichts, sondern beschleunigte seinen Gang und zog mich hinter sich her. Schweigend führte er mich rasch durch das Labyrinth von Gassen vorbei an heruntergekommenen Häusern.
Er schien mich wohl dringend hier raus bringen zu wollen.
Das war... irgendwie nett von ihm.
Für andere ist es vielleicht selbstverständlich zu wirklich jedem nett zu sein, aber für mich ganz sicher nicht. Das hatte damit zu tun, dass ich selber nicht so war. Ich mochte Menschen nicht sonderlich, warum also so tun als würde ich sie mögen?
Natürlich war das anders bei Leuten die mich gut behandelten.
Und das tat er gerade. Deswegen beschloss ich, ihm nicht länger eine Last zu sein.

„Hey, wenn du willst kannst du mich jetzt alleine laufen lassen. Hier ist auch schon viel mehr los.", sagte ich und zeigte zur Verdeutlichung auf die paar Menschengruppen um uns herum. Inzwischen befanden wir uns fast in der Innenstadt, es konnte also nicht mehr weit sein. Langsam entspannte ich mich und ich atmete tief aus.

„Du hast es einfach immer noch nicht verstanden...", ungläubig schüttelte er den Kopf „Ich lasse dich hier nicht alleine. Außerdem bin ich jetzt schon so weit mit dir mitgekommen, da macht es auch keinen Unterschied mehr ob ich dich die 20 Meter nich begleite oder nicht."
Dann halt nicht.
Wenigstens hatte er jetzt meinen Arm losgelassen. Die Stelle die er festgehalten hatte pochte etwas, weil er so fest zugepackt hatte.
Für den Rest des Weges schwiegen wir.

Für die Uhrzeit war es noch relativ warm und ein leichter Wind wehte durch meine Haare und trocknete meine Tränen. Ich konnte mich nicht daran hindern mir auszumalen, wie es wohl gewesen wäre nachts hier mit Jack unter den Palmen entlangzulaufen. Bei dem Gedanken an ihn musste ich schlucken. Eben war ich für kurze Zeit von ihm abgelenkt aber jetzt, wo wir fast beim Hotel waren, kamen wieder die Wut und Enttäuschung hoch.
Wie sollte ich ihm jemals wieder gegenüber stehen ohne sofort anfangen zu heulen wie blöd?

„Wir sind da. Ich gehe jetzt."
Wir waren beim Hotel angekommen und ich drehte mich zu - wie hieß er eigentlich ? - um. Er war schon dabei zu gehen.

„Nein, warte. Bitte."

Before DawnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt