„Du hast Recht, das habe ich nicht einfach mal so gemacht.", meinte Rio, mir zustimmend.
„Aber ich war ja in der Gang. Und die Jungs waren genau so wütend wie ich, denn auch sie hatten Freunde und Verwandte verloren. Wir haben uns zusammengetan, die Mörder ausfindig gemacht und umgebracht. Die Details erspare ich dir lieber."Mir war etwas ungut zumute und ich musste schlucken. Ich wollte mir lieber nicht vorstellen, wie sie das getan hatten.
Hatten sie sie einfach erschossen?
Erhängt, zerstückelt, oder vergiftet?
Und davor noch gefoltert um Antworten zu bekommen?
Mich durchfuhr ein Schauer.
Ich wollte das wirklich nicht wissen, aber mein Kopfkino hatte wohl andere Pläne.„Ich war damals gerade 16 Jahre alt. Während wir es taten, war ich voller Wut und Adrenalin, dass ich keinerlei Gefühle gegenüber meines Opfers verspürt habe. Aber als ich wieder zu Hause war und langsam alles realisiert habe, da bin ich... mir war so schlecht! Ich konnte zwei Wochen lang nicht mein Bett verlassen und habe kaum etwas gegessen."
Rio fuhr sich durch die Haare und schluckte, während ich ihn entgeistert mit aufgerissenen Augen anstarrte.
Es war doch nicht normal, oder?
Dass ein 16 jähriger Junge so wütend war, dass er aus Rache jemanden umbrachte.
Ich konnte es einfach nicht fassen.
Das zeigte mal wieder, dass es noch viel zu viele Probleme in unserer Welt gab.„Ich hoffe doch, dass du aus der Gang ausgetreten bist, oder?", wollte ich von ihm wissen, ging aber schon davon aus, dass er kein Mitglied mehr bei Nuestra Familia war.
Rio lachte verächtlich und schüttelte seinen Kopf. Dann schaute er zu mir auf und ich hob fragend meine Augenbraue.
„Wenn das so leicht wäre, wäre ich schon längst aus der Scheiße raus. Aber ich bin einfach zu stark in die Gruppe integriert und weiß zu viel über die Deals und Überfälle und alles, dass ich nicht einfach sagen kann ‚Ciao Leute war nett mit euch aber ich bin dann mal weg'. Ich könnte die Taktiken einfach an feindliche Gangs verraten oder die Bosse bei der Polizei verpfeifen.
Damit das nicht passiert, kann auch eigentlich niemand die Gang verlassen. Wenn man das aber tut, wird man gesucht und umgebracht. Denn die finden jeden, und zwar wirklich jeden."Ich biss mir auf die Lippe und sah betreten zu Boden. Erneut kam ich mir so dumm vor. Wie hatte ich denken können, dass eine Gang wie ein Sportverein war, von dem man sich einfach abmeldete wenn man keine Lust mehr hatte.
Ich musste wirklich mal in meinen Schädel reinbekommen, dass das Leben hier auf keine Weise vergleichbar mit der Einfachheit meines Lebens war. Hier wurde nach anderen Regeln gespielt.„Und es gibt wirklich gar keine Möglichkeit für dich aus der Sache raus zu kommen?", fragte ich besorgt. Ich wollte nicht, dass er irgendwann so wie sein Vater enden musste, nur weil er keine andere Wahl hatte.
„Naja... hätte ich jetzt ein Flugticket ans andere Ende der Welt würde ich sofort abhauen. Aber weil ich das Geld dazu nicht habe geht das wohl nicht."
Ich schluckte, denn wir wussten beide genau, dass ich das Geld dazu hätte.
„Aber ich kann außerdem auch nicht einfach meine Familie hier alleine lassen. Entweder würden sie dann alle auf der Straße landen, oder die Jungs von der Gang würden sie benutzen, um mich wieder herzuholen."
Sein verzweifelter Blick fiel auf mich und ich schüttelte leicht den Kopf.
Oh Rio, wo hast du dich da nur reingeritten.„Das hört sich... ziemlich scheiße an.", gab ich fassungslos zu.
Er steckte wirklich in einer aussichtslosen Situation und er selbst konnte sich da nicht heraushelfen.„Was du nicht sagst. Immerhin muss ich mich nicht darüber beschweren, dass ich mich auf meiner zu großen Yacht einsam fühle."
Rio lachte zwar, doch es war offensichtlich, dass er das nur tat um von seinen eigentlich Gefühlen abzulenken.
Er fand es unfair, dass per Zufallsprinzip entschieden wurde, wer mit einem privilegiertem Leben gesegnet wurde und wer nicht.
Ich fühlte mich schlecht, da ich das Glück hatte mich nicht ständig darüber Sorgen zu müssen, ob wir es über die Runden schafften.
Unwohl zupfte ich an den Ärmeln meines Pullis. Es herrschte ein bedrücktes Schweigen, da ich nicht wusste was ich dazu sagen sollte.„Ich komme damit schon klar... irgendwie.", unterbrach Rio schließlich die Stille.
Doch er klang nicht allzu überzeugt von sich selbst.„Es gibt wirklich nichts, wie ich dir helfen könnte?", fragte ich ihn ungläubig und zog meine Augenbrauen hoch.
Es konnte doch wohl nicht sein, dass es wirklich nichts gab, was seine Situation irgendwie verbessern würde.„Nein, du kannst mir da nicht raus helfen. Niemand kann das.", meinte Rio während er seinen Kopf schüttelte.
„Dafür müsstest du schon meine gesamte Familie umsiedeln, meiner Mutter und mir eine gute Arbeit beschaffen und meine Schwestern in gute Schulen stecken, wo sie auch wirklich etwas Brauchbares lernen. Und das natürlich alles auf legalem Weg. Ich glaube, das würdest selbst du nicht schaffen."Hoffnungslos ließ ich meine Schultern hängen und zog meine Knie an. Dann ließ ich meinen Blick über den See und die Dünen schweifen in der Hoffnung, dass ich dort irgendwo eine Lösung für Rios Situation finden würde.
„Ich fühle mich aber wirklich schlecht, weil ich hier einfach so tatenlos rumsitze.", erwiderte ich.
Für mich war es unverzeihlich, dass ich meine Klassenfahrt in vollsten Zügen genoss und mir von ihm die schönsten Orte der Gegend zeigen ließ, während er danach wieder nach Hause ging um dann gezwungenermaßen bei Überfällen und was weiß ich was mitzumachen.„Du musst dich aber nicht schlecht fühlen! Das ist einfach mein Leben und damit muss ich eben klarkommen.", meinte Rio schulterzuckend.
„Und ich will jetzt auch nicht mehr darüber reden. Davon wird man ja noch depressiv!"„Gut, worüber willst du dann reden?", wollte ich neugierig wissen und stütze meinen Kopf auf meiner Hand ab.
„Was hältst du davon, wenn wir beide mal auf ein Date gehen?", fragte Rio direkt.
Sein unruhiger Blick und seine Hand, die über seinen Nacken strich ließen mich schließen, dass er nervös war.
Auch ich wurde etwas unruhig und zupfte an den Ärmeln meines Pullis, da ich plötzlich keine Ahnung hatte, was ich mit meinen Händen tun sollte.
Er wollte mit mir auf ein richtiges Date gehen?
Mein Herz schlug vor Freude um einige Frequenzen schneller und ich konnte deutlich spüren, wie mir das Blut in den Kopf stieg.„Ja das... also da hätte ich nichts dagegen... klar, lass uns auf ein Date gehen!", stammelte ich da mein Gehirn zu Matsch geworden war und keine kompletten Sätze mehr hervorbringen konnte.
Wie peinlich war das denn bitte!
Wir hatten uns schon mehrmals geküsst und uns gegenseitig gestanden, dass wir den jeweils anderen ganz gut fanden. Aber jetzt wo er mich fragte ob wir auf ein Date gehen wollten, ein richtiges Date? Er und ich? Da konnte ich einfach nicht mehr klar denken.„Super, ich freu mich drauf!", sagte Rio lächelnd woraufhin sich eine ganze Herde Schmetterlinge in meinem Bauch bemerkbar machte. Ich lächelte zurück und er legte einen Arm um mich. Daraufhin kuschelte ich mich an ihn und legte meinen Kopf an seine Brust. Ich konnte deutlich seinen schnellen Herzschlag spüren und musste schmunzeln.
Doch dann fiel mir auf, dass heute schon Donnerstag war. Am Sonntag in einer Woche würde ich schon wieder nach Hause fliegen.
Sofort wich mir das Lächeln aus dem Gesicht.„Rio... du weißt schon, dass ich bald wieder zu Hause bin, oder?", fragte ich zögerlich und richtete mich auf, um ihn ins Gesicht sehen zu können.
Doch Rio sah nicht enttäuscht aus, im Gegenteil. Er nickte lächelnd und strich mir eine Strähne hinters Ohr.„Yo sé (Ich weiß). Deswegen will ich ja auch die Zeit, die uns noch bleibt, so gut wie möglich nutzen. Also... was hältst du von morgen Nachmittag?"
Ich grinste. Denn ich konnte es kaum erwarten, allen Mädchen da draußen zu zeigen, dass Rio für den Tag mir gehörte.
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a/n:
Das erste Date also bald uhlala🤪Und meint ihr, dass Malu irgendeinen Weg finden wird um Rio zu helfen?
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Before Dawn
Teen FictionNatürlich nahm sie nicht an, ihr Leben würde perfekt werden. Das wäre schlichtweg dumm und naiv gewesen. Doch das erste Mal seit drei Jahren meinte sie zu glauben, das Glück wäre wieder auf ihrer Seite. Bevor sie es jedoch ergreifen kann, wird die...