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Erschrocken entzog ich ihm ruckartig meine Hände.

„Du hast jemanden umgebracht?", rief ich mit weit aufgerissenen Augen.
Das war es also, warum er sich die Träne am Auge tätowiert hatte.

„Ja, habe ich.", erwiderte Rio leise und senkte seinen Blick auf den Boden.

„Und das sagst du erst jetzt?! Du bist ein Mörder, verdammt nochmal!"
Ich rappelte mich auf und ging ein paar Schritte zurück um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
Das konnte doch nicht wahr sein!

„Er hat es verdient, man!"
Auch Rio war lauter geworden, doch im Gegensatz zu meiner Wut war er eher verzweifelt.

„Niemand hat es verdient zu sterben!", schrie ich fassungslos und ballte meine Fäuste.
Seine Angst hatte sich bestätig, ich sah ihn mit völlig anderen Augen.
Er hatte einfach kaltblütig einem Menschen das Leben genommen. Klar, er hatte ein Motiv dafür gehabt, doch das war ja wohl noch lange nicht ausreichend um einen Mord zu rechtfertigen.
Nichts konnte so etwas rechtfertigen.

„Du hast mir versprochen, dass du mir zuhörst. Bis zum Ende.", sagte Rio so leise, dass ich es fast nicht gehört hätte.
Er traute sich gar nicht, mir in die Augen zu sehen.
Sein Gesicht hatte er in seinen Händen vergruben.
Rio sah ziemlich erbärmlich aus, so wie er da einsam im Sand saß, doch ich konnte auf keine Weise Mitleid mit ihm haben.

„Na gut. Erzähl weiter.", nickte ich ihm zu, bleib aber genau da stehen wo ich war, denn in seiner Nähe wollte ich mich gerade sicher nicht befinden.
Doch trotzdem hoffte ich tief in mir, dass er eine gute Erklärung für seine Taten bereit hatte. Ich wollte nicht schon wieder akzeptieren müssen, dass ich mich erneut in einem Jungen getäuscht hatte.

„Es ist hier passiert.", fuhr Rio fort und sein Blick traf den meinen.
„Mein Vater wurde hier in einen Hinterhalt gelockt und erschossen. Da drüben wurde seine Leiche gefunden."
Er schluckte und deutete auf eine Stelle weiter vorne am Wasser.
Auch wenn ich unglaublich wütend auf ihn war konnte ich einfach nicht verhindern, dass er mir leid tat. Er war ein Junge gewesen, der von den einen Moment auf den anderen seinen Vater verloren hatte.

„Er war Mitglied in der Nuestra Familia. Weißt du noch? Die Gang von der ich dir mal erzählt habe."

Ich nickte. Natürlich wusste ich das noch. Die Gang, in deren Viertel ich mich verirrt hatte.

„Es gab wohl Probleme mit anderen Gangs in der Gegend hier. Zu der Zeit wurden viele umgebracht. Unter anderem mein Vater.", klärte er mich über den Grund des Mordes auf.
Sein Blick war abwesend in die Ferne gerichtet, wahrscheinlich schwelgte er gerade in Erinnerungen.
Ich konnte beim besten Willen nicht verstehen, wieso man einer Gang beitrat, dazu noch einer der gefährlichsten des ganzen Landes. Es war doch klar, dass das kein Zuckerschlecken ist.

„Kannst du dir vorstellen, wie schlimm es ist den Vater der Familie zu verlieren? Nicht nur emotional waren wir am Ende, sondern auch finanziell. Er war der Haupternährer unserer Familie gewesen und plötzlich hatten seine Einnahmen gefehlt. Meine Mutter hatte ständig vom einen schlecht bezahlten Job zum nächsten gewechselt in der Hoffnung, meine drei jüngeren Geschwister und mich versorgen zu können. Doch mir war sofort klar, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis wir nichts mehr haben würden. Also habe ich die Sache selbst in Angriff genommen. Das hier", Rio drehte mir den Rücken zu und zeigte auf seinen Nacken, wo die Initialen NF tätowiert waren, „ist mein erstes Tattoo. Ich habe es mit 15 Jahren bekommen, oder wurde eher dazu gezwungen."
Rio lachte trocken und ich runzelte verwirrt die Stirn.

„Warum wurdest du denn zu einem Tattoo gezwungen? Was soll es überhaupt heißen?"

Rio holte tief Luft.
„Ich bin der Nuestra Familia beigetreten. Jeder braucht ein Erkennungstattoo."
Er hielt seinen Blick gesenkt um meine Reaktion nicht mit ansehen zu müssen. Denn er wusste genau, dass mir überhaupt nicht gefiel, was er gerade gesagt hatte.

Before DawnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt