Ich rannte was das Zeug hielt, es gab so viel Energie, die ich loswerden musste. Meine Beine trugen mich automatisch bis zum Eingang des Hotels, ohne dass ich wirklich auf den Weg achtete.
Doch nun stand ich hier, lebendig und vorerst in Sicherheit. Aber mit einem gebrochenen Herzen und Bildern in meinem Kopf, die ich bis an mein Lebensende nicht loswerden kann.
Als andere Hotelgäste, die gerade das Gebäude verließen, mich mit hochgezogenen Augenbrauen anstarrten, wischte ich mir erst einmal die Tränen aus dem Gesicht. Aber es würde sowieso keinen Unterschied machen, denn ich konnte einfach nicht aufhören zu heulen.
Eigentlich wollte ich mich auf die Bank neben dem Eingang setzen, doch dann fiel mir sofort ein, dass das die Bank war auf der ich immer mit Rio gesessen hatte. Sofort überkam mich der nächste Heulkrampf. Es wäre falsch, wenn ich mich dort alleine hinsetzen würde. Ich würde wahrscheinlich irgendwie darauf hoffen, dass Rio jeden Moment um die Ecke kam und mich angrinste. Doch natürlich würde das nicht passieren. Ich hatte doch die Schüsse gehört, das war mehr als eindeutig.
Würde man seine Leiche einfach dort liegen lassen? Warten, bis ihn irgendjemand zufällig entdeckt und dann die Polizei ruft? Oder würde der Mann Rio mitnehmen und seinen Körper irgendwo entsorgen, so als wäre das nicht geschehen? So, als hätte er nie gelebt.
Wer würde ihn denn noch vermissen, außer seiner Mutter, seinen Geschwistern und mir? Die Leute aus der Gang waren seine einzigen sozialen Kontakte, doch er hatte einen von ihnen Verraten. Wahrscheinlich kümmerte es niemanden, dass er nun tot war.
Er war nur einer von vielen.
Ein armes, jämmerliches Leben das nichts bedeutet hatte.Es war alles so unfair!
Er war da doch nur reingerutscht, weil er arm war. Er konnte dafür doch überhaupt nichts! Und jetzt war er tot, weil ich zu unvorsichtig gewesen bin und er dies ausbaden musste.Ich riss mich zusammen, holte einmal tief Luft und betrat das Hotel. Sofort strömte mir die vertraute kalte Luft entgegen. Mit schnellen Schritten begab ich mich zu den Aufzügen und stieg mit anderen vier Erwachsenen in einen der Aufzüge hinein.
Es herrschte Schweigen, jeder war darauf bedacht, die anderen nicht anzuschauen. Sie alle hatten keine Ahnung von dem was gerade passiert war, was ich gerade durchgemacht hatte. Sie alle hielten mich wahrscheinlich nur für ein gewöhnliches Mädchen, das gerade vom Frühstück kam und nun auf ihr Zimmer wollte.Ich wünschte es wäre so gewesen.
Ich wünschte, ich hätte nicht mitbekommen müssen wie der Junge, der mir so viel bedeutet hatte, erschossen wurde.
Und das nur, weil er mich zuvor gerettet hatte. Vor einem widerlichen Vergewaltiger.Im dritten Stock verließ ich als einzige den Aufzug. Ich begann zu rennen, denn ich konnte nicht ruhig bleiben. Ich rannte bis zu meinem Zimmer, riss die Tür auf und ließ sie mit einem lauten Knall hinter mir zu fallen.
Marlee war nicht da, doch es war alles so wie vorhin, als ich das Zimmer verlassen hatte. Als alles noch normal war. Als Rio noch gelebt hatte.Das gab mir den Rest und ich brach zusammen. Mit dem Rücken an der Tür glitt ich zu Boden, zog meine Beine an und fing an bitterlich zu weinen.
Wie konnte denn jetzt alles normal weiter gehen, obwohl Rio gestorben war?
Wie sollte ich denn jetzt normal weiter leben?
Die Welt müsste anhalten! Ohne Rio konnte sie doch nicht weiter gehen!Wie sollte ich das denn packen? Wie sollte ich den jemals zurück an diese Klassenfahrt denken, ohne damit diese schrecklichen Erinnerungen in Verbindung zu bringen? Ohne jedes Mal in Tränen auszubrechen, ohne mir jedes Mal vorzustellen, wie Rio erschossen wurde?
Das war unmöglich, ich würde es nicht schaffen.
Nie mehr wieder in meinem Leben könnte ich glücklich werden, da war ich mir sicher.Ich hörte durch die Tür gedämpfte Schritte auf dem Flur. Sie blieben direkt auf der anderen Seite der Tür stehen. Wahrscheinlich war das Marlee.
Schnell rappelte ich mich auf, als die Türklinke hinunter gedrückt wurde. Marlee betrat das Zimmer und ich machte mir nicht einmal die Mühe, meine Tränen wegzuwischen. Ich würde sowieso gleich wieder anfangen zu heulen.Marlee sah mich erst nicht, denn sie hatte den Rücken zu mir gedreht. Ich blieb einfach still, denn ich bekam gerade kein Wort heraus. Als sie sich umdrehte und mich erblickte, zuckte sie kurz mit aufgerissenen Augen zusammen.
„Oh mein Gott, Malu! Erschreck mich doch nicht so! Wo warst du denn überhaupt so lange? Du hast doch gesagt, du willst dich nur kurz mit Rio treffen."
Marlee musterte mich besorgt und ich konnte kaum ihrem Blick standhalten.
Bei der Erwähnung seines Namens stieg mir direkt wieder das Wasser in die Augen und einzelne Tränen kullerten meine Wangen herab.„Oh nein, was ist denn los?", fragte Marlee und zog mich in eine feste Umarmung.
Anstatt ihr zu antworten fing ich einfach an zu schluchzen. Doch es tat gut, dabei in ihren Armen zu liegen und getröstet zu werden.„Ist etwas passiert?", hakte sie vorsichtig nach, als ich mich aus ihrer Umarmung löste.
Und wie etwas passiert war. Niemals im Leben hätte sie sich auch nur annähernd erträumen können, was ich gerade erlebt hatte.„Ja... Rio ist tot!", fiel ich direkt mit der Tür ins Haus.
Daraufhin wurde ich von Marlee entgeistert angestarrt.„Das... das kann doch nicht sein! Wie ist das passiert?!"
Geschockt hielt sie sich die Hände vor den Mund.„Es war so schlimm, Marlee!", rief ich und brach wieder in einen Heulkrampf aus.
„Komm, wir setzen uns erstmal hin.", meinte Marlee leise und legte einen Arm um mich, während sie mich zu meinem Bett führte.
Wir setzten uns hin und sie ließ mich erstmal so lange weinen, bis ich keine Tränen mehr übrig hatte.„Aber dir geht es gut, oder? Dir ist nichts passiert?", hakte Marlee nach, als ich mich langsam etwas beruhigt hatte, wenn das überhaupt möglich war.
Ich nickte. Körperlich ging es mir gut, das glaubte ich zumindest. Doch mit meiner Psyche war ich komplett am Ende. Wie sollte ich denn jemals das verkraften, was ich gesehen und gehört hatte? Was Ignacio mit mir angestellt hatte?
Das alles würde mich mein Leben lang begleiten und ich hatte keine Ahnung, wie ich damit fertig werden sollte.„Immerhin das.", murmelte Marlee.
Sie war viel wortkarger als sonst.
Natürlich war sie das, sie war noch geschockt und wusste nicht, wie sie sich mir gegenüber verhalten sollte.„Ich bin heute zu Rio nach Hause gegangen.", fing ich an, um die bedrückte Stille zu unterbrechen.
Dann erzählte ich ihr wirklich alles von Anfang bis Ende, ohne dabei irgendein Detail auszulassen.
Es viel mir schwer und ich musste oft Pausen machen oder mir neue Tränen aus dem Gesicht wischen, doch irgendwann hatte ich ihr die ganze Geschichte erzählt.Marlee sagte nichts, sie starrte einfach nur mit weit aufgerissenen Augen auf den Boden. Inzwischen realisierte ich es gar nicht mehr, dass Rio tatsächlich tot war. Es kam mir so unwirklich vor. Mein Gehirn wollte es nicht wahrhaben, dass er erschossen wurde und suchte nach irgendwelchen Möglichkeiten, wie er doch hätte überleben können.
Ständig schaute ich zur Tür unseres Zimmers rüber und hoffte darauf, dass Rio jeden Moment hier hereinspaziert kam und mir sagte, dass alles nur ein böser Scherz war. Dass es ihm gut ging und er heute mit mir nach Hause kommen würde.
Ich wusste, dass das niemals passieren würde, denn er war tot. Aber es fiel mir so unendlich schwer, das zu akzeptieren.—
a/n:
Denkt ihr, Malu kommt irgendwann mit dem was passiert ist klar?🥺
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Before Dawn
JugendliteraturNatürlich nahm sie nicht an, ihr Leben würde perfekt werden. Das wäre schlichtweg dumm und naiv gewesen. Doch das erste Mal seit drei Jahren meinte sie zu glauben, das Glück wäre wieder auf ihrer Seite. Bevor sie es jedoch ergreifen kann, wird die...