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„Mein Bruder ist gestorben.", sagte ich mit belegter Stimme und schlang meine Arme um mich selbst.
„Vor drei Jahren."

Man sollte meinen, mit der Zeit hätte ich alles verarbeitet haben sollen und ich wäre in der Lage, problemlos über dieses Thema zu sprechen. Doch bei mir hatte die Zeit keine einzige Wunde geheilt. Ich brach zwar nicht mehr in Heulkrämpfe aus wie damals immer wenn ich an meinen Bruder dachte. Das lag aber weniger daran, dass ich akzeptiert hatte, dass er gestorben war sondern eher weil ich irgendwann jeglichen Gedanken an ihn verdrängt hatte.

„¡Oh no!", flüsterte Rio und sah mich gleichzeitig betreten und besorgt an.
„Das tut mir so unglaublich leid für dich. Wenn... ich habe drei kleine Schwestern. Wenn ich sie verlieren würde wäre das das Schlimmste für mich."
Mitfühlend nahm er mich in den Arm und drückte mich an sich. Dann schob er seinen Arm unter meine Kniekehlen, hob mich sanft hoch und setzte mich so ab, dass ich quer auf seinem Schoß saß. Die rechte Hand legte er auf meinem linken Oberschenkel ab und durch das Loch in meiner Jeans spürte ich die von ihm ausgehende Wärme deutlich auf meiner Haut, doch trotzdem breitete sich dort eine Gänsehaut aus. Seine andere Hand legte er behutsam auf meinen Kopf, während er sanft durch meine Haare strich.
Doch seine Zuneigung beruhigte mich nicht - im Gegenteil. Ich lehnte meinen Kopf an seine Brust und fing mit vors Gesicht gehaltenen Händen an zu schluchzen. Es war so, als ob alle Tränen die ich die letzten drei Jahre zurückgehalten hatte jetzt in diesem Moment rausgelassen wurden. Aber ich fühlte mich dabei nicht wie eine schwache, alleingelassene Memme. Einfach nur die Tatsache, dass Rio hier bei mir blieb und mich in seinen Armen heulen ließ, gab mir unglaublich viel Kraft und Unterstützung und das Gefühl, dass es auch mal in Ordnung ist zu weinen. Deshalb ließ ich einfach meinen Emotionen freien Lauf, vergoss jede Träne die es zu vergießen gab und kümmerte mich keine einzige Sekunde darum, wie jämmerlich ich gerade wohl aussah.
Rio blieb die ganze Zeit über still, war einfach da und strich mir beruhigend durch die Haare. Er stellte keine weiteren Fragen, obwohl er überhaupt nicht wusste, was damals genau passiert war und wieso es mich jetzt wieder so hart getroffen hatte. Er gab mir einfach die Zeit die ich brauchte. Und ich nahm sie dankbar. Nicht jeder Junge wusste, wie man mit weinenden Mädchen umzugehen hatte.

„Er hatte einen Unfall.", begann ich mit zitternder Stimme weiter zu erzählen, als ich mich langsam beruhigt hatte.
„Ich war damals 14 und er 16. Inzwischen bin ich ein ganzes Jahr älter als er es je war."
Ich unterbrach mich selbst und dachte an all die Dinge, die mein Bruder niemals erleben würde. Er hatte praktisch noch sein gesamtes Leben vor sich gehabt. Noch nicht einmal mit der Highschool war er fertig gewesen. Er hatte noch nie ein Mädchen wirklich geliebt.
Er würde nie seinen ersten Tag am College haben, seinen ersten Tag bei der Arbeit.
Er würde nie nach der Schule mit seinen Freunden reisen können.
Niemals würde er eine Familie gründen und meinen Kindern Cousins und Cousinen schenken können.
Ihm wurde einfach alles in diesem kurzen Moment genommen.

„Er hatte gerade seinen Führerschein bekommen und ist so gut wie überall hin nur noch mit seinem Auto gefahren. Er hat es geliebt und war auch ganz gut im Fahren. Auf jeden Fall ist er eines Tages abends von einem Football Spiel nach Hause gefahren. Es war ein Freitag im Herbst, schon längst dunkel und er war auf einer eher weniger befahrenen Straße unterwegs. Ihm ist ein anderes Auto viel zu schnell entgegengekommen. Der Fahrer war ziemlich betrunken, ist von seiner Spur abgekommen und frontal mit meinem Bruder zusammengestoßen."
Ich schluckte.
Ich konnte mir nicht vorstellen, was für eine Panik mein Bruder in diesem Moment gehabt haben muss. Ihm war klar gewesen, dass es schlecht für ihn aussah. Das wusste ich einfach.
Und es war alles bestimmt zu schnell gegangen, als dass er sich wenigstens von all den Dingen die ihm wichtig waren verabschieden hätte können.

„Er war auf der Stelle tot.", fuhr ich fort und versuchte mir nicht bildlich vorzustellen, wie mein Bruder zusammengequetscht und mit sämtlichen gebrochenen Knochen und offenen Wunden tot in seinem Auto saß.
„Der Fahrer des anderen Autos auch, die anderen zwei Insassen waren verletzt und konnten Hilfe holen. Eine Stunde später stand dann ein Polizist vor unserer Tür."
An dieser Stelle brach meine Stimme und wieder spielte sich dieselbe Situation wie die letzten Tage vor meinem Auge ab.
Zitternd holte ich tief Luft und sprach weiter.
„Wir waren gerade dabei zu Abend zu essen. Der Polizist kam zu uns herein, er wollte sich nicht einmal zu uns an den Tisch setzen, da es ihm so unangenehm war. An seinem Blick konnte ich direkt sehen, dass irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Sofort hatte ich an meinen Bruder gedacht und das erste Mal in meinem Leben gebetet. Ich hatte gebetet, dass es doch bitte meinem Bruder gut gehen würde. Doch dann wurde uns erzählt, dass mein Bruder, der einzige Sohn meiner Eltern, gestorben ist. Und das nur weil jemand anderes sich unbedingt betrinken musste!"
In der Vergangenheit hatte ich häufiger mit Wutausbrüchen zu kämpfen, wenn ich daran dachte. Was hatte mein Bruder bitte getan, dass er der Rücksichtslosigkeit anderer zum Opfer fallen musste?
So oft hatte ich mich gefragt, wieso es gerade ihn treffen musste.
Wieso er nicht zwei Minuten früher oder später hätte losfahren können.
Dann wäre er immer noch am Leben.
Und uns wäre so viel Leid erspart gewesen.

„Ich wollte es gar nicht erst glauben. Ich dachte, das wäre irgendein dummer Scherz gewesen. Aber dann hat meine Mutter angefangen es zu realisieren. Es war schrecklich. Sie ist zusammengebrochen, hat gezittert und ständig seinen Namen geschrien. Mein Vater hat natürlich versucht sie zu trösten, auch wenn er selbst am Ende war. Doch kein Mann kann je eine Mutter trösten, die gerade aus dem Nichts ihren Sohn verloren hat.
Der Polizist saß da, verzweifelt und wusste, dass er nichts tun könnte um uns irgendwie zu helfen. Da begann ich es zu checken. Mein Bruder, der immer für mich da gewesen ist, mich vor den Zicken unserer Schule verteidigt hat, mich getröstet hat wenn ich gerade irgendeinem Jungen hinterher trauerte und mit dem ich so viele schöne Momente verbracht habe, war tot. Er wurde mir weggenommen und ich konnte ihn nicht mehr zurückbekommen. Ich bin völlig ausgerastet. Ich weiß gar nicht, ob ich geweint habe. Aber ich war unglaublich wütend. Wütend, weil Elijah es am wenigsten von allen verdient hatte zu sterben. Weil meine Eltern es nicht verdient hatten ihren Sohn zu verlieren. Weil dieser dumme Fahrer nicht aufpassen konnte. Weil ich von heute auf morgen keinen Bruder mehr hatte, der auf mich aufpasste. Kein 14 jähriges Mädchen sollte sich jemals in so einer Situation befinden. Ich habe es nämlich nicht gut vertragen. Ich bin einfach durch die Tür und irgendwo hin gerannt. In der Hoffnung, dass wenn ich abhaue auch meine Probleme verschwinden. Meine Eltern hatten nicht einmal die Kraft mir zuzurufen, dass ich gefälligst zu Hause bleiben sollte."

„Ich glaube, das machst du öfters, oder? Dass du einfach wegrennst wenn du wütend und traurig bist.", unterbrach mich Rio leise und strich mir eine Strähne hinters Ohr.
Ich nickte.
Mit den Gedanken daran, unter welchen Umständen ich auf ihn gestoßen war musste ich lächeln. Wie recht er hatte.
Das war eine meiner schlechten Charaktereigenschaften und er hatte sie entdeckt, nachdem er mich wie lange kannte?
Nicht einmal zwei Wochen?

„Als ich dann wieder zu Hause war, habe ich wochenlang durch geheult. Nachts konnte ich deswegen nie einschlafen. Es war einfach die reinste Hölle. Als ich aus dieser Phase raus war, hatte ich mir geschworen deswegen nie wieder auch nur eine einzige Träne zu vergießen. Aber auch, weil ich in der Schule runtergemacht wurde nur weil ich mit verheulten Augen in den Unterricht gekommen bin. Mir wurde das Gefühl gegeben, dass nur schwache kleine Mädchen weinen."
Ich lachte trocken.
Es war wirklich absurd, wie kaltherzig manche meiner Mitschüler gewesen sind.

„Und du hast es durchgezogen? Bis du betrogen wurdest?", kombinierte Rio und sein düsterer Blick war in die Ferne gerichtet.

„Genau. Du warst also der erste, der mich seit längerem wieder heulen hat sehen. Herzlichen Glückwunsch."
Mein Herz schmolz dahin, als sich seine Lippen zu einem leichten Lächeln formten und sein weicher Blick den meinen traf.

„Und was war der Grund, warum du kein Problem mehr damit hast, vor anderen zu weinen?"
Ich spürte deutlich, wie sein Griff um meinen Oberschenkel fester wurde woraufhin mein Herzschlag schneller schlug.

„Ganz ehrlich? Du bist der Grund.", sagte ich und sah betreten auf meine Schuhe.
Irgendwie hatte sich das gerade wie ein Liebesgeständnis angehört.

„Ich?", fragte Rio verwundert aber als ich ihn anblickte konnte ich erkennen, dass er sich darüber freute.
Sein immer breiter werdendes Lächeln war einfach zu eindeutig.
Und es war ansteckend. Sofort musste ich auch lächeln, zusätzlich zu der Röte die mir ins Gesicht stieg.

„Ja. Zugegeben, das erste Mal war es mir ziemlich unangenehm. Aber heute nicht. Du bist einfach für mich da und hast dich nicht lustig über mich gemacht oder so... ja das finde ich ganz gut."
Ich war noch nie die Person gewesen, die offen über ihre tiefsten Gefühle redete. Deswegen fiel es mir jetzt auch schwer klar auszudrücken, was ich eigentlich sagen wollte.
Nämlich, dass ich mich unglaublich wohl und sicher bei ihm fühlte und gerade nirgendwo anders sein wollte als hier. Auf seinem Schoß und in seinen Armen, hypnotisiert von seinem Lächeln und gefangen von seinem eindringlichen Blick.

a/n:
Was sagt ihr zu dem Kapitel?

War das mit ihrem Bruder unerwartet?

Before DawnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt