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„Also ich finde, Rio hat Recht. Ich sollte dich gehen lassen, oder nicht?", fuhr der Typ hinter mir seinen angefangenen Satz fort, als wir wieder weit und breit die einzigen waren.

„Das ist doch ziemlich nett von mir, chica. Findest du nicht? Ich werde dich einfach gehen lassen!"
Er hatte sich so nah zu mir runter gebeugt, dass sein warmer Atem meinen Hals streifte. Sofort durchfuhr mich ein eiskalter Schauer und überall an meinem Körper stellten sich die Haare auf.

„Ich werde aber nicht gehen. Nicht ohne Rio!", sagte ich bestimmt und versuchte mich aus seinem festen Griff zu lösen.
Das resultierte allerdings nur darin, dass er mich wieder in den Schwitzkasten nahm. Ich packte seinen Unterarm mit meinen Händen, und versuchte, seinen Arm von meinem Hals zu ziehen. Daran scheiterte ich jedoch kläglich und schaute hilfesuchend zu Rio auf. Er sah mich besorgt an, würde er einen weiteren Schritt in meine Richtung machen, wäre er tot. Und der einzige Grund, warum ich noch hier war war, damit genau das nicht passierte. Damit er nicht sterben würde.

„Malu, es geht nicht anders! Wir kommen hier nicht beide heil raus. Das musst du akzeptieren, verstanden? Das hier ist meine Welt, so funktioniert sie eben. Aus meinem Leben wäre doch sowieso nichts besonderes geworden, das wissen wir beide. So gut wie niemand kommt hier aus der Kriminalität raus, früher oder später wäre ich abgeknallt worden. Meine Mutter ist darauf vorbereitet. Aber bei dir? Du hast das alles nicht verdient. Du bist doch ein viel zu guter Mensch, um hier auf der Straße zu sterben. Um von einem Gang Mitglied ermordet zu werden. Es ist alles meine Schuld, also werde ich auch dafür büßen müssen."

Entgeistert starrte ich Rio an, während er quasi wie beiläufig darüber redete, dass er es verdient hatte jetzt auf der Stelle zu sterben.

„Außerdem ist das gar nicht so schlimm, wenn ich weiß, dass du dafür leben kannst.", fügte er leise hinzu.

„Das war ganz schön süß, Rio.", ertönte wieder die amüsierte Stimme des Mannes hinter mir.
„Aber jetzt ist Schluss mit eurer kleinen Diskussion. Rio, du kommst her und deine hübsche Freundin lasse ich dafür gehen."
Er lockerte etwas den Griff um meinen Hals und nahm die Waffe von mir. Er winkte mit ihr Rio zu uns her, welcher langsame, unsichere Schritte auf uns zu machte.

„Nein! Rio, du bleibst jetzt stehen! Aber auf der Stelle!", rief ich zugleich wütend und ängstlich.
Ich würde es mir doch niemals verzeihen, wenn ich jetzt einfach feige wegrennen würde!

Auf einmal wurde ich herumgewirbelt und an die Wand gedrückt. Der Typ, der mich die ganze Zeit festgehalten hatte, hatte jetzt seine beiden Hände an meinen Hals gelegt. Er war mir so nah gekommen, dass mir nichts anderes übrig blieb, als in seine tiefschwarzen Augen zu schauen. Sein Gesicht konnte ich nicht sehen, denn er trug eine schwarze Sturmmaske. Lediglich für seine wulstigen Lippen war noch ein Loch vorgesehen.

Das war gut, denn solange ich sein Gesicht nicht kannte, würde ich ihn auch nirgends wieder erkennen. Ich war also keine Gefahr für ihn und er würde mich beruhigt gehen lassen können. Hätte er sowieso vorgehabt mich auch zu töten, hätte er sich nicht die Mühe dieser Maske gemacht. Immerhin meinte er seine Worte ernst. Trotzdem war ich immer noch der Meinung, dass ich Rio hier nicht alleine lassen konnte. Es musste doch irgendeine Lösung geben...

„Jetzt hör mal gut zu, kleine.", zischte der Mann vor mir, gefährlich nahe an meinem Gesicht.
Panisch packte ich seine Hände, als sein Griff um meinen Hals fester wurde.

„Rio wird gleich so oder so sterben. Egal ob du hier bleibst oder nicht. Es steht aber in deiner Interesse, ob du den morgigen Tag noch erleben willst, oder nicht. Es ist eigentlich nur ein gut gemeintes Angebot, dein Leben im Austausch gegen seins. Außerdem bist du zu hübsch dafür, dass ich dich erschieße. Aber wenn du mir keine andere Wahl lässt, werde ich erst dich abknallen, dann Rio. Was glaubst du denn, wie er sich fühlen wird, wenn er dich erschossen auf dem Boden liegen sieht? Wenn er dabei zuschaut, wie immer schneller das Blut aus dir heraus fließt? Es gäbe keine schlimmere Qual für ihn, da bin ich mir sicher."
Gehässig lachte er und rückte etwas von mir ab.
Ängstlich blickte ich zu Rio, der sich uns inzwischen bis auf wenige Meter angenähert hatte.

„Du hast ihn gehört, Malu. Es hat keinen Sinn, wenn du hier bleibst. Also geh, bitte. Es gibt nichts anderes was ich mehr will, als dass du in Sicherheit bist, verstanden?"
Eindringlich sah Rio mir in die Augen.
Doch ich hörte ihn nicht einmal wirklich zu. Viel mehr war ich damit beschäftigt, mir seine Gesichtszüge einzuprägen. Die Art, mit der ihm seine Locken in die Stirn fielen. Das Funkeln in seinen Augen wenn er über etwas redete, das ihm viel bedeutete. Die Falte die sich zwischen seinen Augenbrauen bildete, wenn er sie zusammenzog. Und das schiefe Grinsen, dass er mir so oft geschenkt hatte. Auch wenn ich es gerade nicht zu Gesicht bekam. Ich würde es wohl nie wieder sehen können.
Denn unsere Situation war aussichtslos, vor allem für ihn. Niemand auf dieser großen weiten Welt würde uns jetzt helfen können.
Heiße Tränen der Verzweiflung liefen mir die Wangen hinunter.

„Ich will dich aber nicht verlassen!", schluchzte ich und wäre in mir zusammengesackt, wenn ich am Hals nicht förmlich an die Wand genagelt gewesen wäre.

„Du verlässt mich doch nicht, wenn ich dir sage, dass du gehen sollst! Wenn, dann bin ich es der dich verlässt!", rief Rio verzweifelt.
Er würde alles dafür tun, dass ich von hier verschwinden würde, bevor es zu spät wäre.

„Natürlich verlasse ich dich dann! Ich lasse dich hier alleine. Was wäre ich denn für ein Mensch, wenn ich jetzt gehen würde?"
Ich konnte mir nicht vorstellen, was für eine Angst er haben müsste, wenn ich gehen würde. Wenn er wissen würde, dass es nun vorbei für ihn war. Wenn er in die Augen seines Mörders schauen würde und genau wusste, dass das seine letzten Sekunden waren.

„Das ist es aber was ich will, verdammt!", schrie er und hatte sofort den Lauf der Waffe vor seinem Gesicht.

„Nicht so laut mein Freundchen.", knurrte der Maskierte.

„Ich will aber bei dir sein!", rief ich genau so laut zurück.
„Ich will dir helfen!"

„Wann siehst du es denn ein?! Du kannst mir nicht helfen! Und jetzt geh!"
So wütend hatte ich Rio noch nie gesehen. Und es beängstigte mich. Aber er bekam dadurch, was er wollte.

„Na gut. Wenn es wirklich das letzte ist, was du willst, dann gehe ich.", erwiderte ich leise.
Sofort packte sich der Mann Rio und ließ mich dafür los. Rio schuckte mich in Richtung der großen Straße, denn sonst wäre ich einfach neben ihnen stehen geblieben.

„Lauf doch, Malu! Und dreh dich nicht um, okay? Auch wenn du es hörst. Und vergiss nicht, ich werde immer bei dir sein, verstanden? Immer!", rief er mir über seine Schulter zu.
An seine Schläfe war der Lauf der Waffe gerichtet. Der Finger des Mannes lag auf dem Abzug. Gleich würde er schießen.
Verdammt, verdammt, verdammt!

Doch mir war klar, dass ich hier nichts mehr tun konnte. Rio hatte Recht, die Situation war aussichtslos und das einzige, was jetzt noch in meiner Macht lag war, dass ich mein verfluchtes Leben rettete.
Langsam ging ich ein paar Schritte zurück. Rückwärts. Damit ich Rio und den Mann im Blick hatte, sie schauten mich beide an. Ich wollte mich umdrehen und losrennen, doch gleichzeitig war das das letzte was ich wollte. Ich wollte Rio weiterhin anschauen, lebendig. Ich konnte nicht meinen Blick von ihm abwenden. Es war unmöglich.

Es war doch erst gerade eben gewesen, dass wir uns das erste Mal gesehen hatten. Wie konnte es denn jetzt schon vorbei sein? Wie konnte jetzt schon sein gesamtes Leben vorbei sein?
Nein, nein, nein!
Das durfte einfach nicht so sein!
Ich fühlte mich so hilflos und schuldig wie noch nie zuvor in meinem Leben.
Die Tränen flossen wie ein Wasserfall aus meinen Augen, tropften auf den von der Sonne erwärmten Asphalt.
Wie konnte jetzt überhaupt die Sonne scheinen? An so einem schlechten Tag!

„Jetzt geh oder ich knall dich auf der Stelle ab!", schrie der Typ.
Seine Waffe zeigte auf mich.
Das gab mir den Rest, ich drehte mich um und rannte. Tat es wie Rio mir gesagt hatte, ich ließ ihn allein hinter mir zurück, ohne ein letztes Mal zurückzuschauen.

Ich bog um die Ecke.
Ich hörte einen Schuss, dann noch einen und noch einen.
Ich rannte schneller, schlug mir die Hände vors Gesicht.
Viele Tränen flossen, dann noch mehr und noch mehr.

Rio war tot und alles war meine Schuld.

a/n:
Tut mir echt leid für dieses Ende👀

Before DawnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt