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Nachdem ich den Brief gelesen hatte, war ich hin und her gerissen gewesen. Ein Teil von mir wollte Rio nicht glauben und in ihm nur den kriminellen Mörder sehen, der vieles tun würde um an Geld zu kommen. Aber der andere Teil von mir wollte seinen Worten sofort glauben, denn natürlich hatte ich immer noch Gefühle für ihn. Ich wollte daran glauben, dass er den Großteil seiner Gefühle, seiner Taten mir gegenüber nicht vorgespielt hatte und, dass ihm wirklich etwas an mir lag.

Der gutgläubige Teil in mir wollte jetzt sofort aufspringen und zu ihm laufen. Sagen, dass mir leid tat was ich gesagt hatte. Ich wollte wieder mit ihm zusammen sein, so wie es vorher gewesen ist.
Doch ich hielt mich selbst davon ab, denn inzwischen hatte ich gelernt, dass man Menschen nicht blind vertrauen konnte. Vor allem, wenn ich sie noch nicht so lange kannte.

Immer wieder las ich mir Rios Brief durch. Er hatte mich kein einziges Mal um eine zweite Chance gebeten. Vielleicht hatte er gerade deswegen eine zweite Chance verdient. Er hatte stets gesagt, was Sache war, gemeint ich solle ihn vergessen und hatte mir ein schönes Leben gewünscht. Es war ihm nur um mich gegangen. Nicht um sich selbst.

Wenn ich ihm wirklich glauben würde, dann war es nie seine Absicht gewesen an mein Geld heranzukommen. Er wollte doch bloß meine Kontakte und meinen Status als Stütze nutzen, um selbst an einen guten Job zu kommen. Konnte ich ihn das überhaupt verübeln? Er hatte das alles doch nur für seine Geschwister getan, oder?
Hätte ich das gleiche nicht auch für meinen Bruder getan?
Und mein Bruder für mich?
Deswegen konnte ich doch wirklich nicht sauer auf ihn sein, oder?
Aber was, wenn das tatsächlich alles gelogen war...

Mein Gedankenchaos wurde von meinen zwei besten Freunden unterbrochen, die das Zimmer betraten und mich begrüßten.
Es war inzwischen Freitag und sie sind somit von ihrem letzten Ausflug zurückgekommen. Der Tag Morgen würde uns frei zur Verfügung stehen und am Sonntag würden wir wieder die Heimkehr antreten. Es war kaum zu glauben, wie schnell diese vier Wochen vorbei gegangen waren. Immer wenn ich an die vergangenen Wochen dachte, war das erste was mir in den Sinn kam Rio. Ich würde wohl niemals an diese Klassenfahrt denken können, ohne dabei sein Gesicht zu sehen.

„Hey, wie geht's dir?", erkundigte sich Carter bei mir und machte es sich auf meinem Bett bequem.

„So langsam geht es wieder.", erwiderte ich und versuchte zur Überzeugung ein Lächeln aufzusetzen.
Allerdings gelang mir das nur halbwegs, da ich zu verwirrt und durcheinander von meinen Gedanken war und nicht wusste, was jetzt eigentlich meine Meinung zu Rio war.

„Endlich!", rief Marlee erfreut und nahm mich in den Arm.
„Dann können wir ja heute Nachmittag zusammen etwas unternehmen, oder?"

„Hm... okay.", murmelte ich etwas weniger überzeugt.
Ich hatte eigentlich nicht vorgehabt heute schon mein gemütliches Bett zu verlassen. Aber andererseits würde es mir gut tun, auch mal wieder an die frische Luft zu kommen.

„Oh... hast du Rios Brief gelesen?", fragte Marlee als ihr Blick auf das zusammengefaltete Blatt Papier auf meinem Nachttisch fiel.
Auch wenn sie versuchte, es zu verstecken, war nicht zu übersehen dass sie sich darüber freute.

„Ja habe ich. Nicht nur einmal.", seufzte ich und stand auf, um mir Klamotten für heute Nachmittag rauszusuchen.
Da ich die letzten Tage aber fiel zu wenig gegessen hatte, wurde mir sofort schwindelig und ich musste mich wieder setzen.

„Wir haben dir was zu essen mitgebracht.", sagte Carter schnell und sprang auf, um mir einen Pizzakarton zu überreichen.
Ich klappte ihn auf und die Pizza darin lächelte mich schon praktisch an und bat darum, gegessen zu werden.

„Danke! Ihr seid die besten, wirklich!", rief ich und biss genüsslich in das erste Stück.

„Jaja ich weiß.", erwiderte Marlee und warf ihre Haare hinter die Schulter.
„Aber wieder zurück zu dem Brief, was stand drin?"

„Naja... er hat halt die Situation erklärt und gesagt, dass ich ihn besser vergessen sollte und sowas.", meinte ich knapp, da ich mich meiner Meinung nach in der letzten Zeit genug mit diesem Thema befasst habe.

„Okay...? Und jetzt? Ich meine... vergisst du ihn einfach? Oder... was genau hat er denn gesagt, also stimmt es, dass er dich einfach nur fürs Geld benutzt hat?", wollte Marlee von mir wissen.

„Lies doch einfach selbst den Brief.", brummte ich und widmete meine Aufmerksamkeit wieder der Pizza.

Seufzend schnappte sich Marlee den Brief und begann ihn zu lesen, während Carter verwirrt zwischen uns hin und her schaute. Er wusste, dass ich die letzte Woche wegen Rio so mies drauf gewesen bin doch von einem Brief hatte er wahrscheinlich noch nichts mitbekommen.

„Also ich finde, das hört sich alles ganz logisch an.", meinte Marlee nach einer Weile.
„Ich meine, du hast doch mal erzählt, dass er ziemlich arm ist und sogar dieser Gang beitreten musste, damit seine Familie nicht auf der Straße landet. Da macht es doch nur Sinn, dass er gehofft hat durch dich einen Weg in ein besseres Leben zu finden."

„Na und? Kann doch auch alles gelogen sein.", erwiderte ich.

„Das kann natürlich auch sein, aber ich glaube er sagt die Wahrheit. Sonst hätte er doch bestimmt nur um eine zweite Chance gebettelt und, dass es ihm leid tut, bla bla bla."

„Ja ich weiß, daran habe ich auch schon gedacht. Aber trotzdem bin ich mir nicht sicher, ob es tatsächlich stimmt.", sagte ich etwas verunsichert.

„Musst du wissen.", meinte Marlee schulterzuckend.
„Entweder glaubst du ihm nicht und das Thema Rio ist gegessen, oder du vertraust ihm und redest nochmal mit ihm und das alles zu klären. Ihr müsst ja nicht gleich heiraten."

Ich nickte und ließ mir Marlees Worte noch einmal durch den Kopf gehen. Was würde denn passieren können, wenn ich ihn noch einmal sehen würde?

Wir machten uns auf den Weg zum Ausgang des Hotels, da Marlee und Carter beide in der Stadt noch etwas für ihre Familie kaufen wollten. Mehr oder weniger freiwillig begleitete ich die beiden. Aber ich musste zugeben, dass es mir wirklich gut getan hatte, mich wieder fertig zu machen und wie ein normaler Mensch auszusehen. Gleich fühlte ich mich schon viel besser und meine Lebensfreude kehrte mit jedem Schritt, mit dem ich mich von meinem Depressionsloch entfernte zurück.

Ich sprang schon förmlich die Stufen im Treppenhaus hinunter, als ich fast mit einer Person zusammenstieß.
Eine Person die ich kannte.

„Pablo? Was machst du denn hier?", fragte ich überrascht, als ich neben ihm stehen blieb.

„Weißt du nicht mehr? Ich wurde doch beauftragt um mit Jack zu reden um ihn von den Drogen weg zu kriegen.", schmunzelte er und mir wurde warm ums Herz.

„Ja klar, das weiß ich noch... ich dachte nur... weil Rio und ich..."

„Du dachtest, nur weil da diese Sache zwischen Rio und dich gekommen ist, haben wir unseren Plan aus dem Fenster geschmissen? Natürlich nicht, Kleine. Rio hat sogar fest darauf bestanden, dass wir das durchziehen.", erklärte Pablo lächelnd.

„Oh... natürlich, klar. Und wie läuft es so mit Jack? Also lässt er mit sich reden?", erkundigte ich mich und hoffte, dass Pablo etwas bei ihm erreicht hatte.

„Oh ja, es läuft ganz gut. Er hat schon eingesehen, dass das was er tut nicht gut für ihn ist. Er hat auch schon seit drei Tagen keine einzige Droge mehr genommen.", berichtete Pablo freudig und ich konnte nicht anders, als ihn zu umarmen.
Es machte mich unglaublich glücklich, dass sie das trotz der Umstände für mich taten. Denn wenn das, was Pablo gesagt hat stimmte, hatte Rio darauf bestanden, dass Jack geholfen wird. Und ich war mir ziemlich sicher, dass er das nicht wegen Jack tat. Rio hatte ihn schließlich schonmal regelrecht verprügelt. Viel mehr tat er es, weil ich das wollte.

Und da war ich mir sicher: ich musste ihn nochmal sehen.
Wenigstens noch ein letztes Mal.


a/n:
Findet ihr, dass Malus Entscheidung gerechtfertigt ist?
Oder sollte sie sich lieber nicht mit Rio treffen?

& ich hoffe ihr sitzt sicher, in den nächsten Kapiteln geht's nämlich ab haha

Before DawnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt