Before Dawn

[19]

Er ließ die Waffe sinken und steckte sie in seinen Hosenbund.
Dann lief er zu der angeschossenen Frau, die immer noch auf dem Boden lag und sich kein bisschen gerührt hatte.
Ich dachte eigentlich, er wollte sich bei ihr den Schlüssel für die Kasse holen, aber stattdessen checkte er ihren Puls.
Ich nahm an, dass sie noch lebte, denn sie hatte nicht zu viel Blut verloren. Lediglich der Ärmel ihrer Bluse hatte sich rot verfärbt aber sie lag nicht in einer großen, dramatischen Blutlache.

Als er zu dem selben Schluss gekommen war wie ich, lief er auf uns zu. Er legte Marlee und mir je eine Hand auf den Rücken und brachte uns hinter den Tresen. Diese Berührung fühlte sich so vertraut an, wahrscheinlich weil Rio mich genau so angefasst hatte als wir uns das erste Mal begegnet waren.
Vielleicht hatten ja alle Jungs in Guadalajara bei einem wie-behandle-ich-ein-Mädchen Kurs mitgemacht und hatten jetzt alle die gleichen Berührungen drauf.

Er bedeutete uns mit einem Nicken zur anderen Kundin, die immer noch genau so wie vorhin hinter dem Tresen lauerte, dass wir uns auch hier hinhocken sollten. Ich hatte sie total vergessen und sie wirkte ziemlich verängstigt, wahrscheinlich weil sie die Schüsse gehört hatte aber nicht wusste was passiert war. 
Schweigend folgten Marlee und ich seiner Forderung und hockten uns in die Ecke. Marlee nahm meine Hand und ich drückte sie.
Erwartungsvoll sah ich den Typ vor uns an, abwartend was er als Nächstes tun würde.
Hätte er sich nicht eigentlich einfach nur das Geld aus der Kasse holen und abhauen sollen oder so, anstatt uns hier zu verstecken?
Vielleicht war er ja ein Maulwurf in der Gang und versuchte bei Überfällen den Menschen zu helfen.
Das fände ich cool.

Als er für einen kurzen Moment verschwand, sah ich zu Marlee um zu schauen, wie es ihr ging.

„Bist du ok?", flüsterte ich, denn ich traute mich nicht normal zu reden.
Wahrscheinlich weil man das dann im ganzen Einkaufszentrum hätte hören können, so leise war es.

„Ja mir geht's gut.", flüsterte Marlee nickend.
„Ich bin nur ziemlich unter Schock denke ich."

Ich wollte ihr sagen, dass es mir genau so ging, doch als der Typ mit der Frau unterm Arm wiederkam, hielt ich lieber den Mund.
Sie schien wohl bewusstlos zu sein, denn ihre Augen waren geschlossen, ihr Kopf hängte herunter und allgemein war sie in sich zusammengesackt.
Vorsichtig wurde sie von dem Mann neben mir abgesetzt und so hingesetzt, dass sie nicht sofort umkippte. Ich half ihm dabei, indem ich sie an der Schulter festhielt. Dann beobachtete ich ihn, wie er sich einen Zettel und einen Kulli vom Tresen schnappte und irgendetwas aufschrieb. Stumm gab er mir den Zettel, holte wieder seine Waffe aus dem Hosenbund, lief dann rasch zum Ausgang und war verschwunden.

Quédese aquí hasta que llegue la policía. Ninguno de los miembros de la ganga volverá aquí.
(Bleibt hier bis die Polizei kommt. Keiner aus der Gang wird nochmal hierher kommen.)

„Was zur Hölle war das hier?", fragte Marlee leise, nachdem sie stirnrunzelnd den Zettel gelesen hatte.
Genau das gleiche fragte ich mich auch.
Es war natürlich klar, dass das hier ein Raubüberfall gewesen ist oder immer noch ist. Aber die Aktion von dem zweiten Mann bleib mir ein Rätsel.

„Solche Überfalle von den Gangs passieren manchmal. Aber ich habe noch nie gesehen, dass einer von denen auf die Beute verzichtet und den Leuten hilft.", antwortete die andere Kundin und war genau so ratlos wie wir.
Ich warf einen Blick auf die Verkäuferin neben mir. Ihr Kinn lag auf ihrer Brust und ihre Haare fielen ihr durcheinander in die Stirn. Um ihren rechten Oberarm war ein - wahrscheinlich sündhaft teures - Halstuch von Dior gebunden, um die Blutungen zu stoppen. Die Kugel steckte aber sicherlich immer noch in ihrem Arm und sollte eigentlich so schnell wie möglich entfernt werden. Jedoch mussten wir damit warten, bis die Polizei uns hier sicher rausbrachte und sie ins Krankenhaus gebracht werden konnte.