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Ich hätte jetzt am liebsten geflucht, doch Rio hob seinen Zeigefinger an die Lippen und bedeutete mir, still zu sein.

„¿Rio?¿Ignacio?"
Eine tiefe laute Stimme ertönte von draußen vor der Tür.

„¡Queremos tener la chica! (Wir wollen das Mädchen haben)", rief eine andere Stimme.
Sie waren also mindestens zu zweit.
Mit einem Blick fragte ich Rio, was wir jetzt machen sollten. Er sah erst zu mir, dann zur Tür und dann zu Ignacio. Auch wenn er vielleicht vorgab, ruhig zu sein, konnte ich die Angst in seinem Blick erkennen.

Wir hatten keine Möglichkeit, Ignacio zu verstecken. Vor allem nicht jetzt, wo die anderen vor der Tür standen und erwarteten, dass ihnen jeden Moment geöffnet würde. Wir konnten sie also nicht reinlassen, aber dann würden sie sicherlich misstrauisch werden.
Würden sie vielleicht die Tür aufbrechen? Ich wusste es nicht, ich konnte sie überhaupt nicht einschätzen.
Aber ich wusste, dass wir hier dringend weg mussten.

Rio schien den gleichen Gedanken zu haben wie ich. Er lief zu einem der Fenster und öffnete es. Da es aber direkt unter der Decke war, holte er einen Stuhl und schob ihn an die Wand. Dann nickte er mir zu und zeigte aufs Fenster. Ich sollte als erste raus.

Ich ging zu ihm und stieg auf den Stuhl. Dann zog ich mich am Fensterrahmen nach oben. Rio half mir dabei, indem er mich an der Hüfte packte und hochhob. Ich hatte Mühe, mich durch das kleine Fenster raus zu zwängen, doch schließlich schaffte ich es und krabbelte nach draußen. Rio kam mir sofort nach, viel schneller und eleganter als ich. Dann nahm er meine Hand und wir rannten gemeinsam los.

Wir befanden uns in einer Art Innenhof mit einem kleinen Garten. Inzwischen war es nicht mehr dunkel, denn die Sonne ging gerade auf. Das war unser Pech, denn im Hellen konnte man uns viel einfacher sehen als in der Dunkelheit. Wir konnten schließlich nicht erwarten, dass die anderen brav vor der Tür warten würden und dann irgendwann gingen.

Rio steuerte auf einen Gitterzaun zu, der in einer kleinen Lücke zwischen zwei Häusern errichtet worden war. Bevor ich vor dem Zaun überhaupt richtig zum Stehen gekommen war, begann Rio schon den Zaun hoch zu klettern.

„Beeil dich!", befahl er mir und ich tat mein Bestes, so schnell wie möglich den Zaun hoch zu klettern.

„Als ich gerade durchs Fenster bin habe ich gehört, wie sie die Tür aufgebrochen haben.", raunte Rio.
Er schwang sich auf die andere Seite des Zauns und sprang auf den Boden.
Sofort machte sich Panik in mir breit. Sie würden uns hier also sehen können, wenn sie aus dem Fenster schauen würden. Ich hing hier wie auf dem Präsentierteller am Zaun.

Meine Hände begannen schon zu schmerzen, doch ich kletterte tapfer weiter und kam schließlich oben am Zaun an.
Doch es war zu spät.

„¡Puedo verlos (Ich kann sie sehen)! ¡Están ahí (Sie sind dort)!", rief einer der Männer.
Anstatt vom Zaun zu springen und abzuhauen riss ich meinen Kopf herum. Rio tat es mir gleich. Ich erkannte einen Mann, der an dem Fenster stand, aus dem wir soeben geflohen sind. Er zeigte mit dem Finger auf uns und drei weitere Männer tauchten neben ihm auf.

Erst als einer von ihnen durchs Fenster kletterte erwachte ich aus meiner Schockstarre und sprang vom Zaun. Sofort rannten wir wie von der Tarantel gestochen los, Rio voraus und ich hinterher. Er führte mich durch das Labyrinth aus Häusern und Gassen, versuchte gleichzeitig unsere Verfolger durch Umwege abzuhängen und so schnell wie möglich hier raus zu kommen. Ich rannte ihm einfach hinterher, denn um alles in der Welt wollte ich vermeiden, dass die Männer uns erwischten.

„Ich kann nicht mehr!", rief ich jedoch irgendwann und wurde langsamer.
Meine Lunge brannte höllisch, mein Atem ging viel zu schnell und meine Beine wurden so schwer, dass es schon fast nicht mehr möglich war, sie zu bewegen.
Rio drehte sich zu mir um und blieb stehen.

„Na gut, wir machen eine Pause.", meinte er dann und kam zu mir.
Er legte seine Hand auf meinen Rücken und führte mich durch einen kleinen Spalt zwischen zwei Hauswänden. Keine Sekunde zu früh, denn kaum waren wir im Schutz der Häuser versteckt, hörten wir schon die schweren Schritte unserer Verfolger. Durch den Spalt sah ich gebannt auf die Straße. Vier Männer liefen die Gassen entlang, auf der wir soeben noch gestanden hatten. Sie alle sahen so ähnlich aus wie Ignacio, die gleichen dunklen Haare, die gleiche breite Statur, genauso viele Tattoos und sie alle trugen eine Waffe mit sich.

Als sie aus meinem Sichtfeld verschwunden waren, legte ich meinen Kopf in den Nacken und atmete einmal tief aus. Sie hatten keine Ahnung wo wir waren und würden nun ohne jegliche Anhaltspunkte nach uns suchen.
Wir waren sicher. Auch wenn es nur für einen Moment war, war das unglaublich erleichternd.

Rio schien es genau so zu gehen wie mir, er fuhr sich seufzend durch die Haare.

„Ich hätte meine Waffe mitnehmen sollen.", meinte er dann und zog seine Augenbrauen zusammen.
Er hatte recht, dann könnten wir uns für den Fall der Fälle wenigstens irgendwie verteidigen. Auch wenn das gegen vier bewaffnete Männer schlecht aussah.

„Warum hast du Ignacio überhaupt umgebracht?", fragte ich und sah ihm in die Augen.
Hätte er ihn nicht irgendwie fesseln können oder so? Etwas weniger Gewaltsames?

„Du hättest ihn sehen müssen. Der Typ ist völlig ausgetickt.", begann Rio und schüttelte seinen Kopf.
„Er ist richtig wütend geworden, als er gemerkt hat, dass ich ihn angelogen habe. Dann ist er auf mich losgegangen und wollte mir eine reinhauen."
Rio schluckte und sah zu Boden.
Mir war etwas unbehaglich zumute. Klar, wenn Ignacio Rio ausgeknockt hätte, wäre ich auch geliefert gewesen, aber er hatte ihn doch wirklich nicht umbringen müssen!

„Ich habe einfach aus Reflex auf ihn geschossen. Gleich zweimal und dann noch einmal. Ich wollte sicher gehen, dass er mir nichts mehr antun konnte. Denn wenn er mich erledigt hätte, wäre es nur eine Frage der Zeit gewesen, bis er dich gefunden hätte. Und was er dann mit dir angestellt hätte... daran will ich gar nicht denken."
Ich schlang meine Arme um mich, als wieder die Bilder in meinem Gedächtnis erschienen. Bilder von Ignacio auf mir, wie er mich fast erwürgte und ich glaubte zu ersticken.

„Ich bin dir nicht böse, Rio.", sagte ich leise.
„Zugegebenermaßen bin ich froh, dass er tot ist. Klar, würde er noch leben wären uns einige Probleme erspart gewesen. Aber er kann nun keinem Mädchen mehr das gleiche antun wie mir."

„Ich weiß. Aber jetzt haben wir ein mindestens genau so großes Problem! Nur weil ich so wütend und gleichzeitig ängstlich war habe ich ihn erschossen. Nur deswegen werden wir jetzt von vier bewaffneten Männern, die niemals zögern würden zu schießen, durch die halbe Stadt gejagt! Ich habe alles nur viel schlimmer gemacht!", rief er und raufte seine Haare.
Ich bedeutete ihm sofort still zu sein. Sofort drehte er seinen Kopf Richtung Gasse. Doch da war niemand. Jetzt gerade zumindest nicht. Das könnte sich allerdings jede Sekunde ändern. Ich war erst in Sicherheit, wenn ich unbemerkt beim Hotel angekommen war. Und Rio... ich wusste nicht wann er in Sicherheit wäre. Sollte ich ihn mit ins Hotel nehmen?

„Hör zu, mach dir jetzt keine Vorwürfe, okay?"
Ich nahm sein Gesicht in meine Hände damit er mir zuhörte.
„Wenn, dann ist es meine Schuld. Ich bin schließlich hierher gekommen und habe Ignacio auf mich aufmerksam gemacht. Aber wir müssen jetzt schleunigst weg hier, verstanden? Du hast doch erzählt, sowas spricht sich hier schnell rum. Was glaubst du, wann jeder Bewohner dieses Viertels von dem Mord an Ignacio Bescheid weiß? Wir sollten hier also lieber weg sein, bevor deine gesamte Nachbarschaft nach uns sucht!"
Ich ließ sein Gesicht los und trat einen Schritt zurück. Rio nickte und nahm meine Hand.

„Du hast recht. Komm, wir gehen."

a/n:
Da ging ja gerade nochmal gut👀

Aber was glaubt ihr, werden sie auf ihrem Weg ins Hotel erwischt?

Before DawnWo Geschichten leben. Entdecke jetzt