Kapitel 6

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»Na und?«, ich schaue sie verwundert an – ihre Stimme ist kaum lauter als ein Flüstern und doch höre ich das wütende Beben deutlich heraus, »Menschen ändern sich. Besonders wenn Dinge passieren. Ich bin nicht mehr dieselbe wie früher und das weißt du – genauso, warum

Ich verziehe das Gesicht. Ich wusste, dass ich sie verletzen würde, aber nicht, dass es sie so sehr mitnehmen würde. Ihre Stimme klang so voller Leid und Schmerzen, als würde sie verzweifelt nach Hilfe rufen – die ich ihr nicht geben kann. Das konnte ich noch nie. Für sie bin ich doch schon immer nur eine beste Freundin gewesen. Um sie wirklich glücklich zu stimmen, bräuchte ich aber mehr – mehr, was ich niemals erreichen kann.

»Sorry, ich hab' es wohl zu weit getrieben. Mein Fehler.« Ich kann ihr nicht in die Augen schauen, denn ich fürchte mich davor, was ich darin wiederfinden könnte. Ist es Hass? Wut? Angst? Nein, das ist es nicht, wovor ich mich fürchten würde. Es wäre die Leere, die mich bis ins Mark erschüttern und vor der ich mich am meisten fürchten würde. Ich könnte es nicht ertragen, sie wieder ins Nichts, in einen fernen Ort, blicken zu sehen, während ihr Gesicht ausdruckslos bleiben würde und all ihre Gefühle im Keim erstickt zu sein scheinen.

›Es ist meine Schuld.‹

Diese Worte hallen immer wieder in meinem Kopf wider.

›Es ist schon wieder meine Schuld.‹

Ich sehe zu meinem Teller herab. Mir ist der Appetit eindeutig vergangen. Trotzdem zwinge ich mich durch diese Portion. Es gibt nichts, was ich mehr hasse, als unnötig Essen zu verschwenden. Zugleich herrscht eine unangenehme Stille am Tisch, die ich aber nicht einmal zu brechen versuche. In dieser Situation würde ich mich ohnehin nicht trauen. Außerdem ist es noch nie schlau gewesen, mit Stephanie bei schlechter Laune ein Gespräch anzufangen – besonders nichts, wenn man selbst sogar noch schuld an ihrer schlechten Laune gewesen ist.

Ich stehe auf und räume das Geschirr in den Geschirrspüler ein. Solange sie noch mit Essen beschäftigt sein würde, würde ich die Gelegenheit nutzen und vom Schlachtfeld fliehen, denn diese bedrückende Luft hier ist zu viel für mich. Ich brauche einen Plan, aber noch viel eher brauche ich Luft, die nicht auf mir lastet.

»Ich geh' schon mal hoch und warte dort auf dich, ja?« Ich schenke ihr ein sanftes Lächeln und steuere dann auf die Treppe zu.

Kurz bevor ich sie emporsteige, hindert mich Stephanie daran. »Warum benutzt du nicht den Deal? Du könntest mich dazu zwingen, dir zu verzeihen und mich wieder mit dir zu vertragen. Warum fliehst du dann lieber einfach?« Sie schaut mich nicht an. Das tut sie nie, wenn sie ernsthaft verletzt ist – wenn sie etwas wirklich bedrückt. Sie würde mir diese angebliche Demütigung nicht bieten. Dabei zeigt sie mir gerade so mehr als deutlich, wie sie dann fühlt.

Ich schaue nachdenklich zur Decke hinauf. ›Warum‹, fragt sie? Ich muss schmunzeln. Das ist wirklich einfach zu beantworten. »Zuerst einmal fliehe ich nicht, sondern ziehe mich nur zurück. ›Taktischer Rückzug nennt sich das«, beginne ich. Dabei übersehe ich großzügig die Tatsache, dass ich es vorher selbst als Flucht bezeichnet habe, und ebenso ignoriere ich, dass Stephanie daraufhin ungläubig eine Augenbraue hochzieht. ›Wer's glaubt, wird selig‹, liegt es unausgesprochen in der Luft.

»Außerdem hat der Deal hiermit nichts zu tun. Das wäre doch nur reiner Machtmissbrauch und man kann auch nicht alles mit irgendwelchen Verträgen oder Abmachungen aus der Welt schaffen. Gefühle lassen sich durch so was doch nicht beseitigen oder verändern. Ich werde auch so schon früher oder später dafür sorgen, dass du mir verziehen wirst. Und wenn es eben länger dauert. Zumindest ist es dann auch aufrichtig.« Ihre Augen weiten sich und sie schaut mich völlig entgeistert an. Ich muss lachen. »Komm hoch, wenn du fertig bist. Vielleicht kannst du mich ja dann einholen.«

›Warum gerade ›Einholen‹?‹, fragt meine innere Stimme verwirrt.

Ich verstehe es ja selbst nicht wirklich.

›Einholen‹ ist auf viele verschiedene Art und Weisen gemeint gewesen. Vielleicht hat es in diesem Kontext wenig Sinn gemacht, aber ich wollte es dennoch loswerden. Schließlich ist sie mir immer voraus gewesen. Sie ist mein Vorbild gewesen. Sie ist vielleicht nie sonderlich ehrlich gewesen, aber sie hat es zumindest versucht. Und vor allem hätte sie so etwas wie eben nie gesagt. Sie hätte meine Antwort gekannt. Sie hätte sogar diese Antwort für sich selbst gewusst und so eine bescheuerte Frage gar nicht erst gestellt. Ich meinte zwar, dass ich ihre Veränderungen akzeptieren wollen würde, aber trotzdem tut es weh, mitanzusehen, wie sie Rückschritte macht und sich selbst viel weniger zu verstehen beginnt. Wen würde es denn bitteschön nicht traurig machen, wenn man zusehen muss, wie sie ihr Herz und ihre Gefühle immer weiter vor allen Leuten verschließt und in Situationen wie diesen völlig hilflos verzweifelt, sobald man sie mit ihren echten Gefühlen und wahren Gedanken konfrontiert? Sie wäre doch dieses stets fröhliche Mädchen geblieben, das in Sachen Ehrlichkeit vielleicht noch unbeholfen gewesen wäre, aber immerhin stetig Fortschritte gemacht hätte, wäre nicht...

Ich will mich nicht mehr daran erinnern, verdammt! Ich will einfach nur alles vergessen...!

Ich balle die Hände zu Fäusten und beiße mir gequält auf die Unterlippe. Mein Herzschlag beschleunigt sich und ich fühle es – wie der Zorn wieder die Oberhand zu gewinnen versucht.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt