Kapitel 19

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Auch wenn ich bereits den ganzen Tag versucht habe, mich mental darauf vorzubereiten, setzt mein Verstand aus, sobald ich den Anruf entgegennehme. Eines steht trotzdem fest: Ich werde ihr ganz sicher nicht die Wahrheit sagen - wie wenig es mir in Wahrheit gefällt, dass sie und dieser Julian sich so gut verstehen und vielleicht auch mehr als eine einmalige Sache laufen könnte.

Noch dazu bin ich ja selber schuld. Warum also sollte ich mich dann beschweren?

»Hi, Anna. Gut geschlafen?« Ihre Stimme strahlt förmlich Freude aus, während sich mein Herz krampfhaft zusammenzieht. Das gefällt mir jetzt schon nicht. Dabei muss das nicht einmal mit diesem Julian zu tun haben, dass sie so glücklich ist.

›Trotzdem assoziierst du es mit ihm.‹

Leider.

»Ja, wie ein Stein und du?«, lüge ich und bekomme jetzt schon ein schlechtes Gewissen. Ich mag es echt nicht, aber Stephanie kann keine weiteren Probleme und Sorgen im Leben gebrauchen. Davon hat sie bereits genug. »Wie war's gestern und heute bei ihm? Hau schon raus«, füge ich hinzu und versuche so neugierig wie möglich zu klingen, obwohl sich mein Gehirn jetzt schon weigert, diese Informationen abspeichern, geschweige denn, überhaupt erhalten zu wollen.

Plötzlich tritt betretenes Schweigen ein und mein siebter Sinn reibt mir förmlich unter die Nase, dass Stephanie definitiv verlegen ist. Verdammt, gerade sie ist peinlich berührt! Mein Herz steht kurz davor, den Dienst zu kündigen.

»Also«, beginnt sie und scheint nervös, »Er ist so nett und wahnsinnig zuvorkommend. Noch dazu weiß er, wie er eine perfekte Stimmung kreiert, und ich bin mir mittlerweile nicht sicher, ob er einfach ein Naturtalent oder bloß ein geübter Playboy ist! Trotzdem muss ich zugeben, dass es mir gefallen hat. Er ist wahnsinnig charmant, noch dazu ein Gentleman, hat immer einen Witz auf Lager und ist ganz einfach ehrlich. Trotzdem zwingt er mich zu nichts und hat keinerlei Andeutungen Richtung Sex gemacht, obwohl er meinen Ruf kennen sollte. Wir haben es auch nicht getrieben. Er scheint mir so aufrichtig und unschuldig - ohne böse Hintergedanken. Ich weiß nicht so recht, aber ich mag ihn - wirklich.«

Also - beginne ich innerlich gleich - kann mir überhaupt noch jemand verübeln, dass ich mich in Selbstmitleid suhle? Das hier tut gerade nämlich verdammt weh. ›Es sind nur Worte‹, versuche ich mir vor Augen zu führen. Genau, es sind nur Worte, aber Worte, die rasiermesserscharf sind und sich tiefer, als es ein Messer jemals könnte, in meine Haut ritzen. Solche Worte sind es.

Wie es sich wohl anfühlen würde, wenn Stephanie mal so was über mich sagen würde? Mein Herz würde danach wie bekloppt rasen und ich würde mit einem Mal so Rot wie eine Tomate anlaufen. Gleichzeitig aber wäre ich überglücklich über diese Worte und würde danach tierische Lust bekommen, Stephanie in den Arm zu nehmen und sie einfach zu halten. Es wäre zu schön, um wahr zu sein. Tja, und wahr ist es ja sowieso nicht.

Was mir abermals ein Stich ins Herz versetzt.

»Solange du aus der reinen Seele nichts Verdorbenes kreierst, ist doch nichts dabei. Genieße das Gefühl, wenn du bei ihm bist und wenn du denkst, du könntest dir mehr mit ihm vorstellen, fang eine Beziehung mit ihm an. Er scheint ja sowieso an dir interessiert zu sein, sonst hätte er dich nicht explizit nach einem Date gefragt. Es muss ja auch nicht immer nur um Sex und flüchtige Lust gehen. Liebe ist weitaus facettenreicher und auch deutlich langatmiger.« Ich muss lächeln. Ja, Liebe ist so facettenreich, aber ich bereue nichts. Wenn ich mir überlege, welche Emotionen mir schon alle bei Stephanie durchgegangen sind, will ich lieber gar nicht mehr daran denken, aber ich liebe es, wenn ich sie einfach anstarre und grundlos lächeln muss - einfach nur, weil sie gerade glücklich ist und ich bei ihr sein kann. Aus solchen banalen Gründen einfach. »Es wäre schön, wenn er dir die Liebe näherbringen könnte. Schließlich kann sie auch unheimlich schön sein«, hänge ich gedankenverloren an.

Sobald ich mir aber wieder in Erinnerung rufe, dass ich Stephanie liebe und genau sie gerade von einem Jungen schwärmt, vergeht mir wieder das Lächeln.

›Da hast du dir aber ganz schön was eingebrockt.‹

Aber echt.

»Ich habe aber Angst - Angst mich auf etwas einzulassen, was ich nicht kontrollieren kann. Gefühle zu haben, die sich nicht verbiegen oder wieder vernichten lassen«, gesteht sie und ihre zittrige Stimme frustriert mich. Ich hasse es, wenn ich sie so verletzlich erlebe.

›Die Frage ist, warum gerade Stephanie hier und jetzt ehrlich mit sich selbst sein sollte.‹

Nein, die Frage ist eher, wie ich darauf antworte, denn der Grund ist mir einerlei. Ich will ihr helfen und ihre Ehrlichkeit nicht hinterfragen.

»Tu es einfach, denn du kannst ohnehin nichts dagegen tun. Sobald das Schicksal - oder welche Volltrottel auch immer - entschieden hat, sind wir sowieso machtlos dagegen und können es nur noch akzeptieren«, gebe ich ihr einen ernstgemeinten Ratschlag, selbst wenn es sich vielleicht nicht gerade danach anhören mag.

»Glaub mir, ich habe damit Unmengen an Erfahrungen. Ich weiß, wovon ich spreche.« Diesen Gedanken spreche ich allerdings nicht aus.

Wie viele Tage und Nächte habe ich nur damit verbracht, mir den Gedanken aus dem Kopf zu schlagen, dass ich vielleicht auf meine beste Freundin stehen könnte? Dass ich vielleicht mehr als nur Freundschaft für sie empfinden könnte? Dass ich damit gleichzeitig aber auch unsere ganze Freundschaft zerstören könnte? Wie viel Zeit habe ich wohl damit verbracht, meine Gefühle wegzusperren und zu hoffen, dass sie irgendwann einfach von selbst verschwinden würden? Und wie oft habe ich im selben Moment dann meine Zeit damit verbracht, auf ihre Lippen zu starren und mich zu fragen, wie es sich wohl anfühlen würde, wenn ich meine darauflegen würde? Wie es wohl wäre, wenn meine beste Freundin die gleichen Gefühle auch für mich empfinden würde?

Hätte Verleumden nur irgendetwas gebracht, würde ich dieses Mädchen ganz sicher nicht heute noch lieben.

»Hast ja recht. Trotzdem fällt es mir schwer.« Ich merk's.

Noch weniger entgeht mir ihr Ton - sie wirkt bedrückt. Ich presste die Zähne zusammen und ich spüre, wie die Wut sich ihren Weg nach vorne kämpft.

Was ist es nur, was dieser Kerl hat, was ich nicht habe? Was macht ihn so besonders? Was unterscheidet ihn nur von mir? Dadurch, dass sie es noch nicht gemacht haben, scheint es schon mal nicht daran zu liegen, dass der Sex mit ihm so gut sein könnte. Aber dass er ein Junge ist? Nein, dann hätte sie schon viel früher eine ernste Beziehung geführt.

Verdammt, ich kriege Kopfschmerzen von dem ganzen Grübeln. Eigentlich will ich mich auch gar nicht mehr mit diesem Thema beschäftigen. Es deprimiert nur.

»Apropos schwerfallen, ich will es eigentlich nicht wirklich gerne erzählen, aber ich werde mich wohl demnächst mit einem Jungen treffen müssen. Du kennst immerhin meinen Vater. Er drängt mich schon die ganze Zeit dazu und gestern ist es eskaliert.« Wenn ich so darüber nachdenke, ist das, was gestern passiert ist, so umfangreich und ziemlich...surreal?

So eine Unterhaltung und Abmachung ist wirklich nicht gerade das Normalste auf Erden - besonders nicht, während man am Esstisch sitzt und eigentlich nur einen Abend wie jeden anderen auch verbringen möchte.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt