Kapitel 63

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»Hey, Anna, komm mal kurz mit«, entgegnet mir Stephanie, packt mich im selben Moment schon an der einen Hand und schleift mich schon wieder irgendwohin. Dabei durchqueren wir den Flur und gehen die breiten Stufen hinauf, bis wir dann durch den nächsten Flur streichen, um zu Stephanies Zimmer zu gelangen. Erst jetzt zieht Stephanie es überhaupt in Erwägung, meine Hand loszulassen und sofort schon vermisse ich diese angenehme Wärme und Zärtlichkeit. Während sie sich auf eine Suche zu machen scheint, fällt mein Blick auf ihren beladenen Schreibtisch.

›Ist er schon immer so voll gewesen?‹, schießt es mir durch den Kopf und ich hätte den Kopf schütteln müssen. Nein, Stephanie ist noch nie der unordentliche Typ gewesen. Daher betrachte ich den Schreibtisch genauer – trete sogar näher an ihn heran –, nur damit mir letztlich doch nur der Mund offenstehen bleibt.

›Wurdest wohl von allen Socken gehauen.‹

Aber so was von.

Daraufhin kann ich einfach nicht anders, als die oberste Zeichnung dieses chaotischen Papierstapels in die Hand zu nehmen. Bei dem Anblick beginnt mein Herz, sofort schneller zu schlagen, und ein Grinsen schleicht sich langsam auf mein Gesicht. Es ist schlichtweg nicht zu übersehen, wie mich die Freude einfach überkommt.

»Ahh!« Stephanie reißt mir die Zeichnung sofort wieder aus der Hand und legt sie umgedreht wieder auf den Tisch, »Das hättest du eigentlich nicht sehen sollen! Vergiss es einfach wieder, okay?« Sie schaut mich nicht einmal an. Stattdessen ist ihr Blick zu Boden gerichtet und eine Verlegenheit, wie ich sie ihr niemals zugetraut hätte, erfüllt ihr Gesicht. Mein Grinsen wird noch breiter, als es ohnehin schon ist. »Hör schon auf, zu grinsen«, sagt sie dann beleidigt und genervt, sobald sie doch für einen Moment in mein Gesicht geblickt hat.

»Kann ich nicht!«, gestehe ich sofort, »Es ist einfach zu süß! Gerade die Person, die meint, wir sollten Fremde sein, kann diese angebliche Fremde nicht vergessen. Das macht mich einfach überglücklich.«

»Du machst dich doch nur über mich lustig...!«, schmoll sie weiter, schüttelt diese Stimmung im nächsten Moment aber bereits wieder ab. »Vergiss es. Hier«, sie hält mir etwas Verpacktes hin, »Für dich. Frohe Weihnachten, Anna.«

Ein sanftes Lächeln ruht auf ihren Lippen, aber ich kann es nicht erwidern. Mit einem Mal verebbt mein Grinsen und ich schaue sie perplex an. »Ähm, sicher? Ich hab' aber nichts für dich.« Natürlich will ich das Geschenk – eigentlich nur, weil es von Stephanie kommt –, aber das schlechte Gewissen ergreift mich. In diesem ganzen Stress und Streit habe ich es völlig verpeilt, überhaupt nur für eine Person ein Geschenk vorzubereiten.

Daraufhin nimmt sie nur meine Hand und drückt das Geschenk in diese. »Das spielt doch gar keine Rolle. Ich hätte ja selbst kaum daran geglaubt, dir dieses Geschenk noch in diesem Leben jemals überreichen zu können. Nimm es also einfach an, ja?«

»Darf ich es jetzt aufmachen?«

Sofort schüttelt sie vehement den Kopf. »Mach es auf, wenn du alleine bist! Ich würde vor Peinlichkeit sterben, wenn du es vor meinen Augen öffnen würdest!«, klagt sie und ihre geröteten Wangen zaubern mir ein Lächeln aufs Gesicht.

»Du bist echt viel ehrlicher geworden«, werfe ich ein und senke die erhobene Hand, halte das Geschenk jedoch fest umgriffen.

»Magst du das etwa nicht?« In ihrer Stimme schwingt die Angst mit und noch viel mehr verrät mir ihr kurzes Zusammenzucken, wie nervös sie diese Frage macht. Mal wieder überkommt sie die gleiche Furcht, etwas falsch gemacht haben zu können. Besonders, wenn es um das Thema Ehrlichkeit geht.

Daher kann ich gar nicht anders, als auf der Stelle abzuwinken. »Nein, natürlich mag ich's. Ich find's nur schade, dass ich die Entwicklung, wie du Schritt für Schritt immer mehr an Ehrlichkeit gewonnen hast, nicht miterlebt habe.«

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt