Kapitel 52

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Ich: Wagen Sie es nicht, mich in der Schule bezüglich des Freitagabends anzusprechen.

Frau Karls: Haha. Du bist aber ganz schön streng. Denkst du etwa, das kann ich?

Ich: Sie müssen. Es sei denn natürlich, Ihnen liegt nichts an ihrer Arbeit als Lehrerin.

Frau Karls: Schon gut, schon gut! Das war doch alles nur Spaß! Ich werde es für mich behalten.

Ich seufze und lasse mein Handy in meine Jackentasche gleiten. Dann widme ich mich wieder meinem leeren Blatt Papier zu, das es sich auf meinem Schultisch ordentlich gemütlich gemacht hat.

Schön, meine Mutter und ich haben mittlerweile ein eigenartiges Verhältnis und meine Lehrerin weiß von meinem Privatleben Bescheid. Sehr schön. Am liebsten würde ich im Erdboden versinken. Wie kann man seine Gedanken und Gefühle nur all die Jahre lang für sich behalten und sie trotzdem im falschen Moment einfach herausposaunen?

›Weil Anna nicht mehr für dich da ist.‹

Ich seufze erneut. Ich kann diese innere Stimme langsam wirklich nicht mehr hören. Trotzdem muss ich ihr rechtgeben. Ohne meine beste Freundin habe ich eine wichtige Stütze in meinem Leben verloren und das ganze Konstrukt, in dem ich meine Gefühle und Gedanken von allen anderen Menschen isoliert habe, scheint langsam in sich zusammenzufallen.

»Annaaaaaa! Angelina mobbt mich schon wieder!«, höre ich Marie schmollen. Jedoch drehe ich mich nicht um. Ich will Annas Lächeln gar nicht erst sehen. Es freut mich, wie gut es ihr geht, aber davon will ich nichts wissen.

»Ich habe nichts gemacht!«, verteidigt sich Angelina, »Und hör auf, Anna ständig wegen jeder Kleinigkeit anzuspringen. Du belästigst sie damit nur. Was bist du? Ein kleines Kind oder was?« Nein, das will ich wirklich nicht sehen. Ich will nicht sehen, wie sie sich wahnsinnig gut mit anderen Mädels versteht. Dabei wusste ich doch schon immer, wie leicht umgänglich Anna ist. Wenn sie nur will, könnte sie unzählige Freunde haben.

»Ich bin nur zwei Monate jünger als du!«, keift Marie sie an.

»Und geistig trotzdem in der Grundschule stecken geblieben? Man oh man, ein echtes Armutszeugnis.«

»Bist du etwa auf Streit aus!?«, brüllt Marie laut durch den ganzen Raum, sodass ich ihr Gespräch spätestens jetzt nicht hätte überhören können.

»Beruhigt euch doch«, ertönt ihre Stimme im Vergleich zu Maries angenehm leise, aber in meinen Ohren ist sie alles andere als angenehm, »Es macht mir nichts aus. Ich mag ihre energische Seite sogar. Das macht sie doch so liebenswert und einzigartig, oder nicht?« Ohne dass ich es bemerkt habe, habe ich den Atem angehalten, sobald ich Annas Stimme vernommen habe. Daraufhin krame ich auf der Stelle meine Kopfhörer heraus und stecke sie in meine Ohren, während ich Musik über mein Handy laufen lasse.

Bis der Unterricht anfängt, will ich davon nichts hören – besonders nicht heute. Ich habe einfach keine Nerven dafür. Die Musik soll die penetranten Stimmen übertönen und mir ein Gefühl der Geborgenheit übermitteln. Sie soll mich an einen Ort entführen – weit weg von hier –, an dem mich die Freude überkommt, selbst wenn sie nur vorgegaukelt ist – nicht real ist.





»Schön, dass du schon hier bist – zudem auch noch allein. Wollen wir nicht über Freitag reden?«, begrüßt mich Frau Karls mit einer ungeheuren Portion guter Laune, sobald sie durch die Tür schreitet. Daraufhin ignoriere ich sie. Meine Mathematiklehrerin hingegen lacht nur. »Wie gemein. Du könntest mir auch einfach sagen, dass du nicht reden willst, statt mich eiskalt zu ignorieren.« Unterdessen begibt sie sich an den Lehrerpult und packt bereits ihre Unterlagen heraus.

»Es gibt nun einmal nichts zu bereden und selbst wenn, wäre die Schule der mit Abstand ungünstigste Ort dafür. Wollen Sie sich etwa so gern selbst ins Boxhorn jagen?« Auch ich packe meine Materialien heraus.

Habe ich ihr denn nicht vorhin erst in Form einer Nachricht mitgeteilt, dass sie mit mir nicht über Freitag reden soll? Hat sie mir nicht erst vorhin ihr Wort gegeben, sich daran zu halten?

»Nein, aber ich dachte, vielleicht bräuchtest du ja jetzt jemanden zum Reden«, ein freundliches Lächeln umspielt ihre Lippen, »Ich meine es ernst. Ich will nur das Beste für deine Mutter und dich.«

Ich seufze. »Nichts zu ungut, aber Sie sind nun einmal meine Lehrerin. Dafür wissen Sie eigentlich schon zu viel. Außerdem möchte ich auch nicht, dass sie wegen mir ihren Job verlieren könnten«, ich schaue sie nicht an, »Sie können gerne Kontakt zu meiner Mutter halten, aber ich möchte da nicht hineingezogen werden. Entschuldigen Sie, aber was zwischen anderen Personen und mir passiert, geht Sie nichts an.«

»Ich verstehe schon«, ein sanftes Grinsen breitet sich über ihr ganzes Gesicht aus, »Dann werde ich dich von nun an also mit privaten Themen in Ruhe lassen, wenn das dein Wunsch ist. Ich werde trotzdem stets zu Diensten sein, wenn du meine Hilfe benötigen solltest.« Mit diesen Worten dreht sie sich um und beginnt eine Tafelanschrift. Ich senke meinen Kopf wieder und kritzle weiter wild auf meinem Block herum. Neuerdings ist das zu einer meiner Lieblingsbeschäftigungen geworden. Tag für Tag setze ich einen Strich nach dem anderen, nur um mich von der Realität abzulenken. Während zu Beginn die Striche zum bloßen Zeitvertreib dienten, steckt dafür in jedem weiteren eine tiefergehende Bedeutung, bis letztlich Zeichnungen entstehen, die meinen Gedanken und Gefühlen gerecht werden.

Es ist wie mit der Musik: Das Zeichnen soll mich an einem Ort entführen, an dem ich mich frei fühlen und mich voll und ganz von allen anderen Menschen abschotten kann – an dem ich ganz für mich alleine bin, ohne jemandem Freundlichkeit vorgaukeln zu müssen, sondern mich meiner Gefühle und Gedanken völlig hingeben kann. Wenn ich schon nicht ehrlich sein kann, will ich das zumindest durch diese Zeichnungen können. Ich muss schmunzeln.

Nicht, dass sie sich außer mir überhaupt jemand anschauen würde.

»Was macht deine Mutter? Funktioniert das mit euch?«, erkundet sich Frau Karls plötzlich wieder interessiert.

Ich ziehe eine Augenbraue hoch und schaue skeptisch empor. »Ich dachte, Sie wollten mich in Ruhe lassen?«

Sie hebt abwehrend die Hände in die Höhe. »Ich will doch nur etwas über deine Mutter und eurem Verhältnis wissen! Selbst wenn man dieses Gespräch mitanhören sollte, würde es mich nicht den Beruf kosten. Oder willst du auch darüber nicht reden?«

Ich seufze. Diese Frau weiß wirklich mit Worten und Menschen umzugehen. »Ihr geht es gut und wir verstehen uns langsam ein wenig besser. Trotzdem wird es unheimlich lange dauern, bis wir offen und ehrlich miteinander umgehen können. Aber immerhin funktioniert das mittlerweile mit uns.«

Ohnehin fühlt es sich immer komisch an, wenn sie nett zu mir ist, ohne böse Hintergedanken zu hegen. Ich bin es einfach nicht gewohnt, plötzlich niemanden mehr im Haus zu haben, der mich ständig drangsalieren möchte, und daher selbst nicht mehr ständig gewappnet sein zu müssen.

Momentan hält sie sich nur sehr zurück und ist bei jeder Tätigkeit und Wortwahl sehr bedacht, aber sie meinte es wohl ernst, als sie sagte, sie wolle sich wirklich ändern. Ja, das tut sie, während ich hier noch immer Däumchen drehe.

»Ist das nicht gut? Immerhin macht ihr Fortschritte.« Frau Karls klingt zuversichtlich und ich nicke nur stumm.

Die Frage ist doch: ›Für wie lange?‹

Wie lange wird es dauern, bis alles wieder alte Verhältnisse annehmen wird? Es ist nicht so, als würde ich meiner Mutter nicht vertrauen, aber wie oft habe ich schon selbst versucht, mich zu ändern und bin letztlich wieder in alte Verhaltensmuster gefallen? Veränderungen sind nicht unmöglich, aber nur unglaublich schwer, wenn man es erzwingen möchte – wenn einen vergangene Ereignisse immer wieder einholen und in die gewohnte Komfortzone zurückdrängen. Es ist nicht so, als wüsste ich nicht, wovon ich rede – als hätte ich es nie erst versucht. Das habe ich und bin jedes Mal kläglich gescheitert. 

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt