Kapitel 35

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[Anna:]

»Sie mag mich wirklich absolut gar nicht«, beschwert sich Mark und nimmt den nächsten guten Schluck von seinem Bier. Ich hab' mir hingegen nur eine Cola in der Pizzeria, in der wir gerade zu Abend essen wollen, bestellt.

»Ach ja?« Ich lache gekünstelt. Immerhin ist es mir ja auch sofort aufgefallen. Bei ihrem ersten Aufeinandertreffen hat sie sich wirklich noch bemüht, ihre Gefühle für sich zu behalten, aber mit jedem weiteren scheint ihr Hass immer mehr durchzusickern. Mittlerweile könnte selbst ein Blinder mit einem Krückstock sehen, wie wenig sie diesen Jungen vor mir leiden kann. Dabei ist er doch wirklich super nett und freundlich, wenn man nur etwas mehr Zeit mit ihm verbringt. »Und was ist mit dir? Ich glaube, es beruht auf Gegenseitigkeit.« Ich lächle.

Ob es mir gefällt oder nicht, ausgerechnet die einzigen beiden Menschen, mit denen ich, abgesehen von meiner Mutter, am meisten zu tun habe, können sich gegenseitig bis auf den Tod nicht ausstehen.

»Mag vielleicht sein, aber doch auch nur, weil sie mich genauso wenig leiden kann!« Die Beschwerden sprudeln scheinbar nur so aus ihm heraus. Verträgt er denn etwa kein Alkohol? Oder reichen bereits wenige Schlucke Bier aus, um ihn in der Hinsicht redseliger zu gestalten? Gerade zieht er auch noch ein wirklich grimmiges Gesicht.

»Ob das wohl wahr ist?«, murmle ich leise vor mich hin.

Er luchst zu mir rüber. »Was soll das heißen?«

»Falls ich falsch liegen sollte, tut es mir wirklich leid, aber ich glaube, du mochtest sie vorher schon nicht besonders. Ich meine, ich könnte das wirklich niemandem verübeln. Immerhin eilt ihr schlechter Ruf ihr voraus, selbst wenn dieser keinen Einfluss auf ihre guten Noten hat. Wäre ich nicht schon davor ihre beste Freundin gewesen – wären wir eher gesagt davor Fremde gewesen –, dann hätte ich mich bestimmt von ihr ferngehalten«, ich lächle stumm vor mich hin, »Aber so ist sie nicht. Die meisten Gerüchte über sie mögen vielleicht stimmen, aber sie ist wirklich liebenswert. Und gerade ihr kann ich ihr Handeln nicht mal übelnehmen. Sie hat allen Grund dazu.«

»Welchen?« Er klingt skeptisch und das kann ich ihm genauso wenig verübeln. Es ist egal, welche Gründe man hat, sie rechtfertigen es noch lange nicht, mit den Gefühlen anderer zu spielen, aber ganz ehrlich, diese Personen sind auch selber schuld. Jeder weiß, wie Stephanie hinsichtlich Beziehungen und Jungs tickt, also sollte man auch eigentlich darauf gefasst sein, wenn man sich trotzdem auf sie einlassen möchte. Man sollte sich nicht einreden, dass man selbst vielleicht etwas Besonderes sein und sie womöglich verändern könne.

›Und was ist mit dir?‹

Ich sollte dieses dumme, naive Denken endlich ebenso ablegen.

»Sie hat unglaublich viel durchgemacht. Dass sie heute so geworden ist, ist diesen Erlebnissen geschuldet. Diese haben sie erst verändert. Deshalb kann sie nichts dafür.« Währenddessen spiele ich nervös mit meinen Fingern. Ich fühle mich echt mies, hinter Stephanies Rücken über ihre Vergangenheit zu sprechen. Selbst wenn ich es nicht konkret benenne, bereiten mir bereits die bloßen Andeutungen ein schlechtes Gewissen.

»Anna«, beginnt er nun völlig ernst, »Nur weil du ihre beste Freundin bist, musst du sie nicht in Schutz nehmen. Ihre Umstände sind völlig egal. Sie rechtfertigen ihre Taten nicht. Ist es denn also okay, jemand anderen zu schlagen, nur weil man selbst mal geschlagen wurde? Ist es in Ordnung, jemanden umzubringen, nur weil man sein Leben lang gemobbt wurde? Nein, ist es nicht. Die Umstände sind vielleicht tragisch und wenn es hoch kommt, sogar verständlich, aber das erlaubt keinem solche Taten.«

Ich stütze meinen Kopf in die eine Hand und seufze. Ich habe gerade wirklich keine Lust, mit ihm darüber zu diskutieren – noch weniger, wenn ich nicht einmal konkrete Ereignisse benennen kann. Irgendwo hat er ja auch recht, aber er kann nur so grausam ehrlich sein, weil er ihre Vergangenheit nicht kennt. Würde er sie kennen, würde er sich wohl mit solchen Bemerkungen zurückhalten, selbst wenn Stephanie selbst gerade nicht anwesend sein sollte. »Is' ja auch egal. Anderes Thema: Haben deine Eltern dir schon gesagt, wie es zwischen uns Beiden weitergehen soll? Immerhin haben wir schon einige Treffen hinter uns.«

Er schaut nachdenklich an die Decke und ich danke Gott, dass er das vorherige Thema einfach auf sich beruhen lässt. »Nein. Zumindest nicht, dass ich wüsste. Und was wollen sie auch noch Großartiges von uns verlangen?«, er runzelt die Stirn, »Dass wir Sex haben sollen? Oder dass wir heiraten sollen? Wir sind irgendwo doch noch Kinder und in erster Linie Menschen mit gewissen Rechten. Sie können uns nicht dazu zwingen«, jetzt zuckt er grinsend mit den Schultern, »Unsere Eltern können doch eigentlich nur darauf warten, dass wir ihnen entweder sagen werden, dass wir nun zusammen seien oder dass es mit uns einfach nicht funktioniert habe. Andere Optionen haben sie nicht und das spielt uns in die Karten.« Sein Grinsen wird breiter und es ist verdammt ansteckend. Auch ich lächle jetzt. Er hat recht. Ab jetzt können wir schon selbst bestimmen, wie es weitergehen soll. Schließlich habe ich meinen Teil der Abmachung schon längst erfüllt und selbst nach unzähligen Treffen fühle ich gar nichts mit Mark zusammen. Ich mag ihn wirklich, aber mehr auch wieder nicht.

»Oh jaa.« Sehr sogar.

»Und? Wie lange sollen wir dieses Spiel noch spielen?«, fragt er mit einer absichtlich arroganten und überheblichen Art. Ich muss lachen.

»Hm, vielleicht noch etwas länger? Je länger, desto authentischer wirkt es, wenn wir ihnen sagen würden, dass wir es wirklich versucht hätten, es aber einfach nicht klappen wollte.«

»Und danach? War's das dann mit den ganzen Treffen?« Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein, aber ich glaube, einen traurigen Unterton herausgehört zu haben.

Ich grinse verschmitzt. »Ach, hat mich jemand etwa so sehr liebgewonnen, dass er mich nicht verlieren möchte?«, erwidere ich ironisch – was wohl eher schiefgegangen ist. Ich ignoriere die plötzliche Röte in seinem Gesicht und fahre dann etwas ernster fort: »Es würde mich wohl verletzen, wenn wir danach einfach wieder Fremde wären. Ich mein', wir verstehen uns doch gut, oder nicht? Warum also nicht Freunde bleiben? Ich mag dich nämlich sogar ziemlich.«

Sobald seine Wangen erneut wieder an Röte gewinnen, schaue ich weg. Es ist mir unangenehm. Warum reagiert er so? Könnte er etwa...?

Ich schüttle innerlich den Kopf. Nein, das kann nicht sein. Wie dumm bin ich eigentlich? Dafür kennen wir uns doch noch zu wenig. Wahrscheinlich ist es ohnehin nur der Alkohol.

»Ja, ich dich auch. War wohl 'ne richtig dumme Frage, was?«, er lacht gekünstelt, »Wie wäre es mit nächster Woche? Wollen wir uns da wieder treffen?«

Warte, nächste Woche schon wieder? »Also, ähm, nächste Woche wäre etwas...« Ich beende den Satz nicht. Als ich in seine freudig funkelnden braunen Augen blicke, überkommt mich ein schlechtes Gewissen. Wie könnte ich ihn dann einfach abblitzen lassen? Ich seufze – und kapituliere zugleich. «Ja okay, geht klar.« Daraufhin springt er fröhlich auf, um sich im nächsten Moment peinlich berührt wieder hinzusetzen, nachdem ihn jeder im Restaurant angeschaut hat. Ich muss lachen. Jap, dieser Kerl ist wirklich immer für eine Überraschung oder einen Lacher zu haben – wie Stephanie.

Stephanie...

Wie soll ich ihr jetzt eigentlich erklären, dass ich ein Treffen mit Mark eines mit ihr vorziehe? Sie wird bestimmt wütend werden – und vor allem verletzt sein. Wäre es nicht besser gewesen, hätte ich ihm einfach die Wahrheit gesagt und abgelehnt? Genau da liegt das Problem: Ich konnte es einfach nicht. Immer wenn er seine Augen benutzt, kann ich nicht anders, als ihm entgegenzukommen. Es ist einfach so, dass er etwas hat, was ich mir immer gewünscht habe, aber nicht damit gesegnet worden bin: Die warmen kastanienbraunen Augen meiner Mum.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt