Kapitel 57

175 10 12
                                    

Mit jedem Schritt, durch den ich näher an Annas Zuhause gelange, schlägt mein Herz heftiger gegen meine Brust und mich überkommt beinahe das Gefühl, wahnsinnig zu werden. Jedes Mal, wenn ich den einen Fuß vor den anderen setze, würde ich am liebsten einfach auf dem Absatz kehrtmachen und kneifen. Jedoch weigere ich mich, es diesmal nicht durchzuziehen. Ich darf nicht weiter davonlaufen. Ich muss mich einer meiner größten Ängste stellen. Ich muss Anna sagen, wie ich wirklich fühle – was ich mir bei all meinen Handlungen gedacht habe. Ich muss einfach mal ehrlich sein.

Daraufhin schlucke ich schwer. ›Leichter gesagt, als getan‹, schießt es mir durch den Kopf, doch ich versuche mit aller Macht diesen Gedanken zu verdrängen.

Mit quälend langsamer Geschwindigkeit hebe ich den Arm, aber vor der Klingel angekommen kann ich meinen Finger nicht dazu bewegen, diese zu betätigen. Plötzlich ergreift mich doch wieder die Angst.

›Wozu denn mit ihr reden? Du weißt, dass du das nicht kannst. Jetzt kannst du noch immer einen Rückzieher machen, ohne dass jemand nur etwas bemerken würde‹, wirft meine innere Stimme ein und ich presse die Lippen aufeinander. Ich will nicht auf sie hören, doch ich kann mich nicht dazu überwinden, den nächsten Schritt zu wagen und auf diese winzig kleine Klingel zu drücken. Es ist nur eine kleine Bewegung und trotzdem wehrt sich mein Körper vehement dagegen.

›Kannst du denn die Wahrheit sagen? Dich deinen Gefühlen stellen?‹, die Stimme lacht, ›Das glaubst du doch wohl selbst nicht!‹ Dann senke ich meinen Arm wieder und schaue bedrückt zu Boden.

Ja, das kann ich nicht.



[Anna:]

»Ahhhh verdammt!«, brülle ich mit lauterer Stimme und werfe dann den Controller weg. Ich hasse dieses Spiel und trotzdem habe ich gerade so große Langeweile, dass ich meine Zeit sogar damit totschlage. Schließlich bekomme ich nichts von der Schule mit und ich will auch nicht rausgehen. Zurzeit mag ich es wirklich sehr, in meinen eigenen vier Wänden und völlig für mich alleine zu sein.

Dann vibriert mein Handy, doch ich ignoriere es. Ohnehin kann das nur Mark sein, denn die Mädels würden mir nicht schreiben. Am Freitag habe ich sie extra darum gebeten, mir genügend Zeit für mich allein zu geben. »Du kannst uns trotzdem jederzeit schreiben oder uns anrufen. Wir werden für dich da sein, wenn du uns brauchst«, haben sie gesagt. Daraufhin habe ich genickt, doch ich wusste auch da schon, dass ich es nicht tun werden würde. Ich bin nun mal kein Mensch, der andere Personen gerne mit meinen Problemen belästigt. Wegen Stephanie wollte ich ständig stark und eine Person sein, auf die sie sich immer verlassen könnte und um die sie sich nicht zu sorgen bräuchte. Schließlich hatte sie doch immer schon genug mit ihren eigenen Problemen zu kämpfen. Auch sie hat immer versucht, stark zu sein und mich aus ihren Problemen herauszuhalten. Das heißt aber nicht, dass ich es niemals bemerkt hätte, wie sehr sie sich abgequält hat, nur um mir keine Sorgen zu bereiten.

Jetzt nehme ich den Controller doch wieder in die Hand. »Ein bisschen Ablenkung von dieser ganzen schlechten Stimmung kann nicht schaden«, murmle ich leise vor mich hin und starte das Spiel wieder.



[Stephanie:]

»Stephanie? Was machst du hier?«, fragt mich Annas Mutter und sofort schaue ich auf.

›Du hättest gehen sollen, als du es noch konntest.‹ Aber jetzt ist es zu spät.

Ich setze ein Lächeln auf. »Ich würde gern mit Anna sprechen. Würde das gehen?« Schließlich kenne ich doch die Antwort, die sie Mark auch schon hat zukommen gelassen.

»Das wäre gerade schlecht. Ich denke, sie braucht noch Zeit für sich. Sie sieht ziemlich«, sie stoppt kurz, »fertig aus. Selbst nachdem Tage vergangen sind.«

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt