Kapitel 9

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[Vergangenheit]

[Stephanie:]

»Ich geb' dieser Frau nicht gerne recht, aber du solltest das, was du eben gesehen hast, wirklich besser vergessen«, ratet mir Elisa, doch dabei stößt sie bei mir nur auf Unverständnis. Das einfach vergessen? Wie gesagt, das kann ich einfach nicht. Ich wusste, dass diese Frau böse und hinterhältig ist, aber doch nicht so böse und hinterhältig! Alles hat Grenzen!

»Das glaubst du doch wohl selbst nicht! Wie soll das denn gehen? Sie hat es verdient, dafür bestraft zu werden!«, fahr' ich sie an, aber versuche, meine Lautstärke im Griff zu behalten. Schließlich will ich auch nicht, dass gleich alle davon wissen.

»Ich weiß. Ich weiß selbst, dass sie sogar Schlimmeres als die Hölle verdient, aber nicht Dad. Er würde darunter aber wahrscheinlich mehr leiden, als dieses Monster überhaupt Gefühle besitzt. Er könnte mit einem solchen Betrug nicht umgehen und wir wollen ihn beide nicht unglücklich sehen. Er liebt sie hingegen wirklich«, erklärt sie mir, aber in mir bauscht sich nur immer weiter der Zorn auf. Es tut so weh, dass ich zugeben muss, dass Elisa recht hat und wir diese Hexe damit davonkommen lassen müssen. Mittlerweile verspüre ich nichts als Hass ihr gegenüber, aber ich will Papa nicht traurig sehen. Er hat das nicht verdient – absolut nicht.

»Wusstest du davon? Schon vor heute?« Ich will es wissen. Ich denke, die Antwort schon zu kennen, aber ich wünsche mir, es besser nicht zu tun – mich zu irren. Ihre Reaktion vorhin aber, als wir vor diesem Zimmer gestanden haben, ist eigentlich schon zu eindeutig gewesen.

Sie nickt – wie erwartet.

Daraufhin balle ich meine Hände zu Fäusten. Ich spüre, wie die Wut in mir allmählich die Oberhand gewinnt. »Und du hast mir trotzdem nichts gesagt? Es einfach akzeptiert und damit gelebt? Ist das etwa alles einfach in Ordnung für dich!?« Ich kann meinen vorwurfsvollen Ton nicht verbergen.

Sie seufzt. Es kostet jede Menge Selbstbeherrschung, sie dafür nicht zu schlagen, selbst wenn ich kein Freund von Gewalt bin. Gerade bin ich wirklich unglaublich leicht reizbar. Dann schaut sie mir plötzlich mit solchem Ernst in die Augen, dass ich fast schon hätte Angst haben können, wenn ich nicht gewusst hätte, dass meine Schwester mir nie nur ein Haar krümmen würde. »Stephie, ich weiß, was du denkst, und damit magst du vielleicht recht haben, aber sieh dir doch an, was es dir nur gebracht hat, dass du nun davon weißt: Wut, Ekel, Hass, Enttäuschung – nur um mal einige Gefühle davon aufzuzählen. Ist es nicht also alles besser gewesen, als du noch von gar nichts wusstest? Glaub mir, in mir kommen jedes Mal die gleichen Gefühle auf, wenn ich das hier sehe, aber gleichzeitig weiß ich, dass mir die Hände gebunden sind. Wir können nicht gegen diese Frau ankämpfen.« Ein gequältes Lächeln erscheint auf ihrem Gesicht und ihre braunen Augen schimmern leicht im Schein des Mondes – sie sieht so traurig aus. Sofort lässt meine Wut nach. Stattdessen machen sich Sorgen und auch ein Anflug von Schuldgefühlen in mir breit. Ich sollte nicht so egoistisch sein und denken, dass ich hier die Einzige bin, die leidet. Elisa tut es mindestens genauso sehr – vielleicht auch, weil sie schon sechzehn ist und mehr von der Welt versteht. Ich bin nur ein kleines, naives Kind, das von nichts eine Ahnung hat.

»Seit wann?« Seit wann verdammt nochmal weiß sie von alledem? Wie lange musste sie dieses Leid schon mit sich herumschleppen, bevor ich es überhaupt geahnt habe? Es hätte doch eigentlich so offensichtlich sein müssen. Arbeit? Vielleicht Prostitution, aber nichts anderes.

»Als ich vierzehn war, hab' ich es wie bei dir durch Zufall herausgefunden«, ein ersticktes Lachen entfährt ihr, »Ich hätte die Bude beinahe auseinandergenommen, wenn mir im nächsten Moment nicht Dad und sein Glück in den Sinn gekommen wär'n.«

Zwei Jahre? So lange trägt sie das schon allein mit sich herum? Ich will es gar nicht glauben – mir das gar nicht erst vorstellen.

Daraufhin will ich ihr in die Arme stürzen, doch reiche ihr gerade mal bis zum Bauch – trotzdem hält mich das nicht davon ab, sie ganz fest zu umarmen. »Es tut mir leid«, meine Stimme bricht, »Es muss hart gewesen sein, oder? Ganz ohne jemanden zu haben, mit dem man reden kann, oder? Aber jetzt bist du nicht mehr allein! Jetzt sind wir zu zweit! Wir stehen das gemeinsam durch!« Tränen fließen mir die Wangen runter, obwohl ich sie doch eigentlich so sehr unterdrücken wollte.

Es dauert eine Weile, aber nach einiger Zeit streicht mir Elisa sanft durchs Haar und sobald sie zu sprechen beginnt, erklingt ihre Stimme extremst freundlich und zart: »Willst du dich hier gerade etwa als Erwachsene aufspielen?«, sie stoppt kurz, »Aber das klang gerade echt cool – wie eine ältere Schwester. Danke, Stephie. Ja, zu zweit werden wir es bestimmt schaffen.« Ich schaue nicht auf, aber ich vermute, dass sie den Tränen nahe gewesen sein muss. Das spielt für mich aber keine Rolle. Egal, wie sehr ich diese Frau, die sich meine Mutter schimpft, auch hasse, dafür liebe ich Dad und Elisa umso mehr. Es ist sowieso besser, dass ich meine Liebe lieber Leuten zukommen lasse, die sie auch wirklich verdient haben.



[Gegenwart]

[Anna:]

»Steph?«

»Hmmm?«

»Hast du es eigentlich schon vorher mal mit 'nem Mädchen getrieben?« Auf einmal hält sie in ihrer Bewegung inne und schaut mir völlig verblüfft in die Augen, aber ich behalte meinen Blick abgewandt. Ich kann's ja selbst kaum glauben, dass ich das gerade wirklich gefragt hab'.

Wir stehen beide vor Stephanies Schminktisch und ich überdecke die Knutschflecken zunächst mit Fondation und dann noch mit Concealer, während Stephanie ihr übliches Make-Up aufträgt. Ich muss aber schon sagen, dass sie sich bei diesen Flecken verdammt viel Mühe gegeben hat. Sie sind wirklich gut zu sehen und selbst mit Concealer ist bei genauerem Hinsehen ein kleiner Hauch davon zu erkennen. Vielleicht werd' ich aber auch einfach nur paranoid.

Stephanie hingegen hat leichtes Spiel. Es sind nur ein paar kleinere, zarte Flecken zu erkennen, aber nichts, was nicht auch mit ein bisschen Fondation weggehen würde. Ich hab's ihr vergleichsweise echt einfach gemacht.

Plötzlich umspielt mal wieder ein Grinsen ihre Lippen. Ich hasse es, wenn ich daran schon erkennen kann, dass mich als Nächstes nichts Gutes erwarten wird. »Ach, ist da einer vielleicht eifersüchtig?« Ich sehe ein gefährliches Aufblitzen in ihren Augen.

Sie sucht aber auch Streit.

»Ja, also sag schon.« Ich schaue ihr unvermittelt in die Augen und sehe die Überraschung darin. Damit hat sie wohl nicht gerechnet, was?

»Jetzt nimm dir das doch nicht gleich so sehr zu Herzen«, empfiehlt sie mir und lacht daraufhin. Dann drückt sie mir einen flüchtigen Kuss auf den Mund. »Nop, noch nie. Du bist die Erste«, sie stoppt kurz und wirkt unruhig, »Aber auch nur was Mädels anbelangt. Vergiss das nicht.« Ist mir doch auch so schon klar. Das braucht sie mir nicht erst noch zu sagen, verdammt...!

Wie viele? Mit wie vielen Jungs hast du es schon vorher getrieben? Wie viele Jungs durften dich küssen? Auf jeden Fall genug, um mir den Verstand zu rauben. Stattdessen hast du mir meinen ersten Kuss und auch mein erstes Mal geraubt. Das solltest du besser nicht vergessen. Die erste Liebe vergisst man nie und trotzdem machst du es mir noch viel schwerer, zu vergessen – und unglaublich schwer, loszulassen.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt