Kapitel 33

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»Tut mir leid, dass ich dir mal wieder so große Schwierigkeiten bereitet habe. Ich war in diesem Moment einfach nicht darauf gefasst gewesen«, sie lacht, aber es ist wohl mehr Schein als Sein, »Dabei dachte ich wirklich, dass mir spitze Gegenstände nichts mehr ausmachen würden – zumindest nicht mehr so wirklich. Ich meine, ein Messer kann ich auch mehr oder weniger wieder in die Hand nehmen«, rechtfertigt sich Stephanie plötzlich bei mir, doch ich winke nur ab. Mittlerweile sind wir schon bei ihr Zuhause angekommen.

Ich reiche ihr eine warme Tasse Tee, den sie dankend annimmt. »Hör zu, Steph: Du bist die Letzte, von der ich bei so was eine Entschuldigung oder Rechtfertigung hören möchte. Du kannst absolut nichts dafür. Ich bin vielmehr-« Ich beiße mir auf die Zunge. Verdammt, das hätte mir nicht rausrutschen sollen.

»Du bist vielmehr?«, wiederholt sie verwirrt. Ah verdammt, warum muss sie das auch unbedingt gehört haben?

Ich seufze und lehne mich gegen die Küchentheke, während ich zugleich meine Arme verschränke. »Ich bin vielmehr wütend auf mich selbst und eher ich sollte mich entschuldigen. Schließlich hätte ich die Skalpelle einfach früher bemerken sollen. Es nervt mich, dass ich nie etwas ausrichten kann – zumindest nicht, bevor es schon zu spät ist.« Unterdessen schaue ich ihr nicht einmal ins Gesicht. Ich kann es einfach nicht. Ich schäme mich dafür.

»Auch damals?«, jetzt schaue ich sie doch an – mit geweiteten Augen – und mir bleibt der Mund offenstehen, »Ich mein', als du damals zu diesem Spielplatz gekommen bist und den Mann verscheucht hast.« Ich merke, wie sie das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken versucht, doch es entgeht mir nicht. Nach wie vor redet sie absolut nicht gerne über damals.

Ich nicke nur. Daraufhin erscheint ein mattes Lächeln auf ihrem Gesicht. Sie scheint wirklich erschöpft. »Anna, du bist viel zu hart zu dir selber. Weißt du, ich bin dir ehrlich dankbar. Wärst du damals nicht so schnell dagewesen, ich wüsste nicht, ob ich heute noch hier sitzen würde. Da warst für mich wie ein Held – ein Retter in der Not«, sie lacht leise, »Auch wenn sich das gerade wirklich kitschig anhört haben sollte.«

Ich will es wirklich nicht – sie auszunutzen, wenn sie gerade am schwächsten, am verletzlichsten, ist. Ich weiß, dass sie mir gerade nur so viel von ihren Gefühlen und Gedanken preisgibt, weil sie am Ende ist. Eigentlich sollte ich sie aufmuntern – sie wieder aufbauen. Verdammt, ich weiß das doch! Aber alle meine Gedanken drehen sich nur um ein und dasselbe. »Was ist damals passiert, als ich noch nicht da war? Was wollte jener Mann von dir?«, sprudelt es aus mir heraus.

Sie schweigt. Und schweigt. Kein Sterbenswörtchen. Sie schaut mich jetzt nicht mal mehr an. Okay, es sollte eindeutig sein, dass sie nicht reden will. »Vergiss es. Du musst es nicht sagen, wenn du nicht willst.«

»Von Wollen kann hier nicht die Rede sein, Anna«, widerspricht mir Stephanie auf der Stelle. Auf ihrem Gesicht ist nicht die Spur eines Lächelns zu erkennen und noch immer kann sie mir nicht in die Augen schauen, aber sie wirkt verletzlich. Ich öffne gerade meinen Mund, um sie zu fragen, was sie damit meine, doch in diesem Moment fährt sie bereits fort: »Ich wollte – oft –, nur konnte ich es nie. Wann immer ich dazu ansetzen wollte, kam kein einziger Ton mehr heraus. Ich hatte Angst, mich zu erinnern. Mir diesen Teil meiner Vergangenheit damit wieder mehr als deutlich ins Gedächtnis zu rufen. Dieselben Gedanken und Gefühle ein zweites Mal durchleben zu müssen. Auch wenn mich dieses Ereignis stetig verfolgt hat, wollte ich es immer verdrängen«, sie hebt ihren Kopf mit einem schwachen Lächeln auf den Lippen, »Na ja, ich weiß nicht, ob es mir jetzt gelingen sollte, aber ich will es versuchen. Irgendwie habe ich das Gefühl, dass ich es diesmal kann. Ich sollte vielleicht nicht immer nur vor ihr weglaufen, sondern mich der Vergangenheit auch einfach mal entgegenstellen.«

Ich schlucke schwer. Nein, damit hab' ich wirklich nicht gerechnet. Ja klar, ich hab' in der Überzeugung gefragt, dass sie es entweder jetzt oder nie erzählen würde, aber es trifft mich trotzdem irgendwie unvorbereitet.

Sie nimmt einmal hörbar tief Luft. »Er hat mit mir gespielt – als wäre ich irgendein Spielzeug. Es war früh morgens, also hat er wahrscheinlich nicht damit gerechnet, dass ihn so schnell jemand stören könnte. Ansonsten hätte er mich wohl schon gleich an einen Ort geschleift, an dem mich niemand wohl jemals hätte finden können. Zumindest hat er mir gesagt, dass er das vorhatte, aber er wollte erst einmal sichergehen, ob ich diese Mühen auch wert bin – mich zumindest lebend irgendwohin zu schleifen. Wäre ich aufmüpfig geworden, hätte er mich wohl auch an Ort und Stelle getötet – wahrscheinlich ohne bloß mit der Wimper zu zucken. Er hatte irgendwie so diese Ausstrahlung, die mir das damals verraten hatte. Deshalb habe ich ihm brav gehorcht. Auch wenn er mich getreten, geschlagen oder zu Boden geworfen hat – ich habe immer versucht, so zu reagieren, wie er es am liebsten gewollt hätte, sodass er mich nicht sofort töten würde – sodass du vielleicht noch eine Chance haben würdest, mich rechtzeitig zu finden und zu retten.«

Sie legt eine kurze Redepause ein, in der sie auch einen kräftigen Schluck von ihrem Tee nimmt. Ich würde darauf tippen, dass sie Zeit schinden will, weil sie nicht weiß, was sie sagen soll – oder ob sie es überhaupt kann. Ich kann es ihr nicht verübeln. Immerhin ist diese Geschichte wirklich schwerer Stoff und ich kann noch immer kein einziges Wort darüber verlieren. »Ich habe brav mitgespielt – auch als er zur Demonstration seiner Macht mit dem Messer meinen Hals entlanggefahren ist. Ich hatte Todesangst. Hörst du, Anna? Ich dachte in dem Moment wirklich, es wäre aus. Seine Laune hätte nur wegen irgendeiner belanglosen Sache in den Keller schießen müssen und ich hätte die Folgen zu spüren kriegen können. Dieser Kerl war ein kranker Psychopath, der aus Spaß Menschen quälte und lediglich aus Lust und Laune handelte. Er war unberechenbar und gerade deshalb fürchtete ich ihn so sehr. Ich wusste nicht, ob der sofortige Tod am Ende besser gewesen wäre, als durch seine Folter zu gehen und da nicht einmal die Versicherung zu haben, dort auch lebend herauszukommen. Ich wusste ja nicht einmal, ob es sich zu kämpfen lohnte. Es war pure Angst, die ich damals verspürt habe«, ihr Lächeln wirkt jetzt so, als würde sie dahinter ihre Verzweiflung verstecken wollen, »Hätte er mir damals gesagt, ich solle ihm alle Namen und Adressen, die ich kenne, und was weiß ich noch alles nennen, ich hätte es auf der Stelle getan. Verstehst du, Anna? Hätte er mir nur befohlen, jemanden zu hintergehen, den ich am meisten liebte, ich hätte es, ohne zu zögern, für mein eigenes Leben getan! Ich hätte selbst dich angerufen und ins Messer laufen lassen!«, Tränen laufen ihr übers Gesicht, während ihr Lächeln erlischt und sie mir zugleich verzweifelt in die Augen schaut, »Ich habe es einfach nicht verdient, dass du noch so nett zu mir bist. Ich kenne dich, Anna. Du hättest mich für dein eigenes Leben nicht ausgeliefert – ich schon. Gerade deshalb kann ich mir das einfach niemals verzeihen...!«

Ich lasse das erst mal sacken, was für mich nur wenige Sekunden dauert. Natürlich ist diese Geschichte schwer zu verdauen, aber wenn ich nicht sofort reagiere, habe ich das Gefühl, dass ich Stephanie für immer verlieren könnte.

Deswegen gehe ich auf sie zu, nehme ihr die Tasse aus der Hand, die ich dann auf den Tisch direkt neben der Couch, auf der sie sitzt, stelle, und nehme sie einfach in die Arme. Ich will erst einmal, dass sie sich beruhigt und das konnte sie irgendwie am besten, wann immer ich sie in den Armen hielt. Danach beginne ich mit sanfter Stimme zu sprechen: »Es ist schon okay. Schließlich hast du es doch nicht getan, oder nicht? Und ich wüsste ja nicht einmal selbst, was ich in so einer Situation wirklich am Ende getan hätte. Wer weiß? Vielleicht hätte ich es ja auch getan, um mein eigenes Leben zu retten? Aber weißt du, Steph, es ist dir bereits so viel passiert, dass es einfach zu viel wäre, wenn wir noch über ›Was wäre, wenn‹-Fragen diskutieren würden. Merk dir nur eines, Steph, und genau darauf kommt es auch letztlich an: Es ist egal, was alles hätte passieren können und was du alles vielleicht unter anderen Umständen getan hättest. Es zählt nur, was am Ende passiert ist: Du hast es nicht getan. Deshalb brauche ich dir nichts zu verzeihen und du dir selbst erst recht nichts, denn es gibt keinen Grund, wofür.«

Es ist nicht so, als ob ich alles direkt verarbeitet hätte, was sie mir gerade erzählt hat. Es ist nur so, dass ich diese eine Sache einfach direkt schon gewusst habe und unbedingt loswerden musste.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt