Kapitel 55

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[Stephanie:]

Es gibt nur eine Sache, die ich nicht verstehe.

Während mir die Abendsonne im Nacken hängt, setze ich immer wieder nachdenklich den einen Fuß vor den anderen, um mich allmählich nach Hause zu begeben. Dabei schaue ich in Gedanken versunken zu Boden.

Anna ist keine gewalttätige Person. Klar, in der Vergangenheit hatte sie mal die ein oder anderen Auseinandersetzungen, aber irgendwann haben die sich auch gelegt. Mittlerweile verabscheut sie Gewalt sogar. Sie weiß, dass sie sich dadurch nur noch mehr Probleme einhandelt, statt welche zu beseitigen. Warum also sollte sie sich jetzt plötzlich mit Maya und Katharina prügeln? Es bräuchte schon einen driftigen Grund. Nicht einmal, als ich ihr Geheimnis offenbart und sie vor der ganzen Schule bloßgestellt habe, hat sie Gewalt angewendet. Was könnte es also für einen Grund geben, der sie letztlich doch dazu bringen könnte?

›Hat es etwas mit mir zu tun?‹, kommt mir der Gedanke in den Sinn, doch ich schiebe ihn gleich wieder kopfschüttelnd beiseite. Nein, ich bin nicht mehr der Mittelpunkt ihres Lebens. Für wen halte ich mich eigentlich? Mit meinen ganzen Aktionen habe ich sie vermutlich unglaublich verletzt, also warum sollte sie sich dann noch für mich einsetzen? Das hätte sie damals vielleicht noch getan, aber mittlerweile sicher nicht. Ich würde mir nur etwas wünschen, das nicht sein kann.

Sofort blicke ich auf, als ich etwas Eiskaltes und Nasses in meinem Nacken spüre. Daraufhin sehe ich, wie die weißen Schneeflocken vom Himmel herabgefallen kommen. Ich setze ein sanftes Lächeln auf.

Für eine lange Zeit liebte ich den Winter dafür, dass er nicht der Sommer war. Der Winter würde nicht wie der Frühling und der Herbst wärmer sein, sondern es wäre eiskalt. Auf diese Weise würde ich nicht einmal durch das Wetter an diesen Morgen auf dem Spielplatz erinnert werden und ich könnte meine Gefühle in dieser Eiseskälte sogar einfrieren. Jetzt aber hasse ich ihn – dafür, dass es die Jahreszeit ist, in der die mir wichtigste Person in meinem Leben und ich uns entfremdet haben. Die Zeit, in der ihre Gefühle für mich zu Eis erstarrt sind.



[Anna:]

Ich verziehe das Gesicht, sobald das zuvor in Desinfektionsmittel getunkte Wattebällchen auf meine aufgeplatzte Lippe trifft. Trotzdem gebe ich nicht nur ein Geräusch von mir. »Du willst also wirklich nicht darüber reden?«, fragt meine Mutter vorsichtig. Sie scheint wohl Angst davor zu haben, dass ich ein weiteres Mal die Fassung verlieren könnte.

Ich schüttle nur den Kopf. Ja, zum einen will ich es nicht, aber zum anderen darf ich es auch nicht. Ich will Stephanies Vergangenheit nicht offenbaren und ich will ebenso wenig, dass mein Vater dann hinterher vielleicht von meiner Liebe für ein Mädchen herausfinden könnte. Dieses Drama will ich mir jetzt auch wieder nicht antun.

»Willst du es mir also nie erzählen?« Unterdessen klebt sie ein Pflaster auf meine Wunde.

»Ich weiß es nicht.« Zurzeit ja, ich würde es ihr wohl nie erzählen wollen. Allerdings weiß ich nicht, was das Morgen bringen könnte. Ich hätte auch niemals gedacht, dass Stephanie und ich irgendwann keine Freundinnen mehr sein könnten.

Dann legt meine Mutter ihre Hand an meine Wange. »Ich will dich nicht dazu zwingen, aber ich verstehe nicht, was unsere enge Verbindung zertrennt haben könnte. Haben wir uns nicht immer alles erzählt?« Sie scheint verletzt.

Ein sanftes Lächeln legt sich daraufhin auf meine Lippen. »Zeiten ändern sich, Mum. Ich werde erwachsen und damit kommen die Probleme, die man seinen Eltern nicht erzählen möchte. Ich werde aber schon damit fertig, also mach dir keine Sorgen um mich.«

»Ich soll mir keine Sorgen machen?«, nun legt sie auch die andere Hand an die andere Wangenseite und in ihren eindringlichen Augen erkenne ich den Frust, »Anna, du erzählst mir immer weniger, kommst dann von einer Prügelei nach Hause, brichst vor meinen Augen in Tränen aus und willst mir ernsthaft weismachen, du würdest damit fertigwerden?«

»Mum, du musst loslassen. Ich bin nicht mehr dein kleiner, unschuldiger Schatz – schon lange nicht mehr. Hab Vertrauen in mich, dass alles gutgehen wird.« Das ist eine fette, dreiste Lüge. Ich habe doch selbst schon kaum Hoffnung darin, dass sich alles zum Besseren wenden wird. Jedoch möchte ich nicht, dass sie sich noch weiterhin Sorgen um mich machen muss. Dafür lüge ich gerne.

»Sag mir nur, dass du in nichts Gefährliches hineingezogen wurdest.« In ihrer Stimme schwingt die Besorgnis mit und in meinem Inneren zieht sich alles zusammen. Zugleich breitet sich das schlechte Gewissen in mir aus. Ich hasse es, wenn meine Mutter sich Sorgen um mich machen muss. Noch viel mehr hasse ich es aber, wenn ich sie so traurig sehen muss, weil ich ihr das Gefühl gebe, dass ich ihr nicht mehr vertraue. Dabei tue ich das – sehr sogar.

»Das versichere ich dir.« Ich weiß nicht, woher ich diese Entschlossenheit herhole, aber ich bin dankbar dafür.

Daraufhin lässt sie von meinen Wangen ab, packt den Erste-Hilfe-Kasten zusammen und geht. Kurz bevor sie aus meinem Sichtfeld verschwinden würde, bleibt sie jedoch wieder stehen. »Dein Vater kommt erst in vier Tagen zum Abendessen Nachhause. Ich werde ihm aber heute schon von deiner Suspendierung erzählen, damit er sich bis Dienstag abregen kann. Oder willst du es ihm lieber persönlich sagen?« Ich schüttle den Kopf. »Waren das vorhin neue Freundinnen von dir?« Ich nicke. »Sie sehen nett aus. Lass sie besser nicht los.« Ich nicke abermals und diesmal geht sie auch.

Seufzend werfe ich mich dann auf den Rücken. Mein Vater ist das Letzte, womit ich mich eigentlich noch beschäftigen möchte. Dass diese drei Mädels gute Freunde sind, habe ich nie erst in Frage gestellt – zumindest nicht ernsthaft. Tief in mir drinnen wusste ich eigentlich, wie sehr ich ihnen vertrauen kann, aber ich hatte durch die Ereignisse mit Stephanie einfach Unbehagen bekommen.

Eigentlich waren diese Fragen eben von keinem größeren Belangen und die Antworten lagen klar auf der Hand. Normalerweise hätte meine Mutter mich das nie erst gefragt. Trotzdem hat sie diese vorhin gestellt. Vermutlich um die Distanz zwischen uns wieder verringern zu wollen.

Plötzlich überkommt mich das dringende Verlangen, einfach zu seufzen. Das alles hier bin ich gerade wirklich so sehr leid. Wie sich meine jahrelangen guten Verhältnisse zu den mir wichtigsten Menschen langsam zu verschlechtern beginnen.

Dann höre ich, wie mein Handy vibriert, doch will mich nicht darum kümmern. Ja, ich nehme es sogar in die Hand und schalte es aus. Zurzeit möchte ich mit niemandem schreiben und mit niemandem reden. Ich will einfach nur für mich alleine sein und über alles nachdenken. Ich will einen klaren Kopf bekommen. Zurzeit brauche ich einfach Abstand von alles und jedem.





[Stephanie:]

»Ich will dich nach der Schule in dem Park treffen. Wir müssen reden«, überfällt mich Mark auf dem Flur, als ich gerade dabei war, zu dem Raum meines nächsten Kurses zu wechseln.

Ich setze ein provokantes Grinsen auf. »Ach ja? Willst du mir etwa deine Liebe gestehen?«

»Mach dich nicht lächerlich. Ich würde mich eher in den nächsten Mülleimer als in dich verlieben. Der einzige Grund, warum ich mit dir reden möchte, ist wegen Anna. Kommst du jetzt also oder nicht?« In seinen Augen blitzt die Wut und in meinen wohl der Hass auf. Ich verstehe nicht, was Anna so sehr an ihm lieben soll. Es tut fast schon weh, gegen ihn verloren zu haben.

»Ich komme«, entgegnete ich ihm auf der Stelle. Wenn es um Anna geht, habe ich keinen Grund, abzulehnen. Selbst wenn wir jetzt Fremde sein sollen, mache ich mir noch Sorgen um sie. Wenn es nichts Ernstes wäre, würde dieser Kerl doch niemals freiwillig zu mir kommen. Allerdings gefällt mir der Gedanke nicht, dass es um eine ernste Angelegenheit gehen wird.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt