Kapitel 66

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[Anna:]

Es ist nicht so, als ob ich plötzlich alles verarbeitet hätte. Es fühlt sich alles noch immer so surreal an. Meine Mutter will sich von diesem Tyrann scheiden lassen und wird demnächst umziehen. Sie hat sogar bereits eine solide Wohnung gefunden, die für uns beide ausreichen würde. Bevor es jedoch erst so weit kommen wird, wohne ich zurzeit noch bei Stephanie – zufälligerweise die Person, die zugleich auch meine Freundin ist. Dass meine Mutter das hier erlaubt, ist wohl den Umständen und der Tatsache geschuldet, dass sie Stephanie schon seit Jahren kennt. Ja, was noch viel komischer ist, ist aber der Fakt, dass ich mich schon so sehr eingelebt habe, dass ich mittlerweile mit Stephanies Mutter normal reden kann.

Also wirklich. Ich verstehe ganz und gar nicht, was zurzeit abgeht. Selbst nach Wochen fällt es mir schwer, mit dieser Situation, in die ich gewaltsam hineingestoßen wurde, richtig umzugehen. Trotzdem versuche ich, diese Gedanken mehr oder weniger einfach beiseitezuschieben. Ich will einfach nicht daran denken, weil sie mich ohnehin nur deprimieren würden. Stattdessen will ich versuchen, mein Leben in vollen Zügen zu genießen.

Soweit es zumindest mit einer Freundin wie Stephanie möglich ist.

»Du hättest mich nicht gleich so zu hetzen brauchen!«, beschwert sich Stephanie und streicht unterdessen ihr Haar, das im Schein der Wintersonne in rotbraunen Farben erstrahlt, hinter ihr Ohr, sobald ein kalter Luftzug auf unserem Schulweg weht.

Ich zucke hingegen nur gleichgültig mit den Schultern. »Dann hättest du dir nicht so viel Zeit beim Schminken lassen sollen. Es ist ja nicht einmal so, als hättest du es nötig, Make-Up aufzutragen.«

Meine Freundin runzelt daraufhin skeptisch die Stirn. »Das sagst du doch nur, weil du dich ständig beschwerst, dass ich morgens nicht rechtzeitig fertig werden würde!«

Ich seufze kapitulierend. »Ja ja, was auch immer die Majestät sagt, wird wohl auch stimmen, was?« Währenddessen winke ich gleichgültig ab. Dann schaue ich gedankenverloren gen Himmel. »Wobei...«, jetzt schaue ich Stephanie wieder an und entgegne ihr mit einem frechen Grinsen, »Ich hab's mir jetzt doch anders überlegt. Wärst du ungeschminkt, wüsste ich nämlich nicht, ob ich mein Verlangen dann noch zurückhalten könnte, dich hier und jetzt einfach zu küssen.«

Natürlich läuft Stephanie daraufhin rot an, aber in der Öffentlichkeit weiß sie dies immer im Zaun zu halten. Daher kann ich mir die Röte fast schon nur erahnen. »Ich wäre wirklich dafür, du würdest es unterlassen, unsere beiden Rollen zu tauschen«, erwidert sie wenig begeistert.

Ich lache. »Mir gefällt es so aber. Heißt es denn außerdem nicht ›Wer zuerst kommt, mahlt zuerst‹? Dann war ich eben einfach schneller.«

»Ja ja, provozier mich nur weiter und irgendwann steige ich noch auf Outdoor um – ob es dir passt oder nicht. Von mir aus auch mit Publikum.« Ein provokantes Grinsen umspielt ihre weichen Lippen.

Dieses entgegne ich ihr allerdings. »Trau dich das erst. Das will ich sehen!«

Unterdessen durchschreiten wir das Schultor und ignorieren, in unser weiteres Gespräch versunken, das Getuschel und die ganzen gaffenden Blicke. Natürlich musste es ja so kommen. Ich hab' ja auch nichts anderes erwartet und dennoch habe ich gehofft, aber vor den Ferien haben wir unbedingt diese riesengroße Szene im Schulflur veranstalten müssen.

Als Mark uns entgegenkommt und wir uns gegenseitig erspähen, wirft er uns ein sanftes und wissendes Lächeln zu. »Freut mich für euch, dass letztlich alles gutgegangen ist«, sagt er und möchte mit diesen Worten auch direkt wieder verschwinden, jedoch hält erstaunlicherweise gerade Stephanie ihn auf: »Danke übrigens,«, Mark dreht sich um, »wegen des Arschtritts vor den Ferien. Wärst du nicht gewesen, denke ich nicht, dass Anna und ich es geklärt gekriegt hätten.«

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt