Kapitel 44

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Ich sehe sie und will schon sofort wieder weg. Stephanie sitzt auf der Fensterbank des Flures und vor ihr steht vermutlich ihr neuer Freund, denn sie hat immerhin ihre Arme eng um seinen Körper geschlungen. Es ist irgendwie lustig, dass, obwohl sie sogar auf einer Erhöhung sitzt, er sie trotzdem fast überragt. Da hat sie sich echt 'nen Riesen geangelt. Ich habe ihn noch nie zuvor gesehen, doch er wirkt auf mich wie ein Zwölftklässler – aber was weiß ich denn schon. Ich kenne doch nicht einmal alle Leute aus meiner Stufe.

Mir ist jedoch selbst nach diesem Anblick nicht nach Lachen zumute. Sobald ich die Beiden sehe, zieht sich mein Herz schmerzvoll zusammen und mein Magen überschlägt sich. Mir wird schlecht. Ich will die Beiden nicht so sehen – nicht so glücklich. Es tut weh, zu sehen, wie gut sie auch ohne mich klarkommt und wie sehr ich aber darunter leide. Ich kann das nicht. Ich kann nicht so tun, als wäre nie etwas zwischen uns gewesen – nicht nach alledem.

Ich wende meinen Blick ab und drehe mich um. Wenn ich ihr erst im Raum begegnet wäre, hätte ich sie getrost ausblenden, schnell auf meinen Platz eilen und dort meine aufkommenden Tränen niederkämpfen können. Wenn ich jedoch an den Beiden vorbeimuss, um in den Raum zu gelangen, schwänze ich lieber – auch wenn ich so was außer Gestern noch nie gemacht habe. Gestern war ich aber nicht bei klarem Kopf, um zu verstehen, was ich gerade überhaupt getan habe. In dem Zustand von gestern hätte ich ohnehin nicht am Unterricht teilnehmen können. Heute schon, aber ich will es nicht. Es gibt scheinbar für alles ein erstes Mal – selbst fürs Schwänzen.

Ich gehe bereits die ersten Schritte und überlege mir eine gute Ausrede, falls ich auf meinen Englischlehrer treffen sollte, doch dann höre ich eine mir nur allzu bekannte Stimme nach mir rufen. Ich könnte weinen. »Anna!«, ruft mich Stephanie und ich bleibe auf der Stelle stehen. Ihre Stimme und ihre Worte haben nach wie vor die gleiche Wirkung auf mich.

Wie war das nochmal mit ›Wir werden nichts als Fremde sein, sobald wir uns wiedersehen‹ oder so ähnlich? Ich hätte abermals lachen können, aber noch immer ist mir nicht danach. Stattdessen zwinge ich mich mit aller Mühe, mich umzudrehen. Ich weiß doch, was sie plant. Sie will Rache. Sie will mir ihr Glück vor den Augen aller unter die Nase reiben, während sie gleichzeitig auch nur mehr als deutlich zeigen wird, dass wir keine Freunde mehr sind – dass sie auch perfekt ohne mich klarkommt. Was sollte sie sonst noch von mir wollen?

Eigentlich will ich mir das lieber ersparen.

Die Beiden komme auf mich zu – Händchen haltend. Stephanie zieht ihn praktisch hinter sich her und ihr Freund grinst selbstsicher vor sich hin, während er zugleich schamlos auf ihren Hintern glotzt. Wer hat dem bitteschön ins Gehirn geschissen? Ich habe gar nicht gewusst, dass sie auf hirnverbrannte Machos steht. Auch mal was Neues und was erklären würde, warum das zwischen uns Beiden nie wirklich funktionieren wollte. Autsch.

Ich will das nicht mehr sehen.

Trotzdem zwinge ich mir ein sanftes Lächeln auf. Mehr hätte zu aufgesetzt gewirkt und außerdem bin ich für mehr sowieso nicht in der Lage. Sobald sie vor mir stehenbleiben, legt der Kerl seine Hand auf ihren Hintern, während Stephanie sich an ihn schmiegt, was im Übrigen komplett bescheuert aussieht. Wie sie völlig gezwungen versucht, eine Szene vor mir zu machen, zieht alles eher ins Lächerliche. Das sieht Stephanie eigentlich überhaupt nicht ähnlich. Normalerweise sind alte Bekanntschaften für sie immer nur wie Luft gewesen.

»Hey, hab' ich dir schon meinen neuen Freund vorgestellt? Das ist Thomas«, nun richtet sie ihren Blick auf ihren Freund und zeigt mit der Hand auf mich, »Thomas, das ist Anna. Sie war mal meine beste Freundin – bis sie uns Beide einfach aufgegeben hat.« Aua? Ich habe uns ganz sicher nicht aufgegeben. Das Einzige, was ich weggeschmissen hab', ist dieser gottverdammte Deal gewesen, aber scheinbar machte dieser für Stephanie gleich unsere ganze Freundschaft aus.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt