Kapitel 26

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[Anna:]

Ich vernehme laute Stimmen. Ein gequältes Lächeln huscht über mein Gesicht.

Immerhin ist es immer wieder das Gleiche.

Also hole ich den Haustürschlüssel heraus und öffne möglichst leise die Tür, bevor ich hereintrete und sie dann wieder schließe. Danach fällt mein Blick auf der Stelle aufs Wohnzimmer und mein Puls beruhigt sich etwas, sobald ich sehe, dass die Tür zum Wohnzimmer angelehnt ist und mich daher niemand bemerkt haben kann. Deshalb entledige ich mich meiner Schuhe und setze mich auf die ersten Stufen der Treppe, während ich meine Augen schließe. Schließlich werde ich sie hier nicht brauchen und sie offenzuhalten, laugt mich gerade zu sehr aus. Ich bin es leid, der Realität ins Gesicht sehen zu müssen.

»Du meinst das doch nicht wirklich ernst! Du kannst sie sich doch nicht einfach mit einem wildfremden Jungen treffen lassen!«, brüllt Mum aufgebracht. Ich muss schmunzeln. Es ist irgendwie erleichternd, wenn man weiß, dass man in diesem Haushalt nicht völlig allein ist.

Ich ziehe meine Beine an mich heran, lege meinen Kopf darauf und lausche weiter.

»Wildfremd? Ich hab' dir doch bereits gesagt, dass ich ihn mir sorgfältig herausgesucht habe, wenn ich schon nur einen Versuch habe! Außerdem hast du hier gerade rein gar nichts zu bestimmen, Veronika! Deine Tochter hat in diesem Fall für sich entschieden, also ist das wohl natürlich eine Sache zwischen ihr und mir!«, erwidert mein Vater lautstark, doch trotzdem versucht er seine Stimme gedämpft zu halten.

»Sie ist auch deine Tochter! Akzeptier es doch endlich! Du kannst sie nicht einfach ständig abstoßen! Und was waren deine Bedingungen, als du dir diesen Jungen herausgesucht hast? Vielleicht dass er der beste Nachfolger für dich wäre!? Du hast dir wahrscheinlich sowieso nur seine Erfolge angeschaut, aber nicht, ob er auch für Anna geeignet wäre! Dir geht es doch ständig nur um das eine!«

Daraufhin öffne ich meine Augen leicht und starre auf den Fliesenboden. Dabei ruhen meine Augen auf eine schwarze Kachel und ich wünschte, ich könnte mich damit wirklich ablenken. Es tut weh, diesem Gespräch zuzuhören, aber es würde mich in den Wahnsinn treiben, wenn ich mich stattdessen weigern und mich dann eingesperrt in meinem Zimmer fragen würde, was genau sie beredet haben könnten. Manchmal ist die Realität weniger grausam als die eigene Fantasie.

Dann höre einen lauten Knall – als hätte jemand gegen einen Tisch oder Ähnlichem geschlagen. »Das werde ich selbst im nächsten Leben nicht akzeptieren und wenn ich auch damit den Weltfrieden wiederherstellen könnte! Sie ist doch nur irgendein verzogenes Balg, das keine Ahnung vom Leben besitzt!«, sein Ton wird hämischer, »Denkt sie etwa wirklich, dass sie jetzt erwachsen ist, nur weil sie sich mir einmal widersetzt hat? Ha! Ich werde am Ende derjenige sein, der zuletzt lachen wird! Sie kann sich überhaupt glücklich schätzen, dass ich sie noch nicht rausgeworfen und ihr sogar noch eine Chance gegeben habe! Ansonsten ist sie doch nicht mehr wert als-«

»Wag es nicht, das laut auszusprechen, Heiko! Damit würdest du eine Grenze zu viel überschreiten! Sie kann doch nichts dafür, wer sie nun mal ist!« Ihre Stimme erklingt sogar viel lauter als vorhin, aber nicht einmal diese Tatsache schützt mein Herz davor, sich von den Worten dieses Mannes verletzen zu lassen. Manchmal schneiden Worte tiefere Wunden, als es ein Messer jemals könnte.

Er schnaubt verächtlich. »Ich sage doch nur die Wahrheit! Was ist mit ihren Noten? Ihrem Benehmen? Diesen Prügeleien damals? Kann sie dafür etwa auch nichts?! Sieh es doch ein! Sie ist nur ein kleiner, nerviger Störenfried! Zu nichts anderem nützlich als einen starken, guten Mann an ihre Seite zu ziehen, um ihre Fehler reinzuwaschen!«

Ich stehe auf und entscheide mich jetzt doch dagegen, dem weiter zuzuhören. Ja, manchmal kann die eigene Fantasie schlimmer als die Realität sein, aber dieser Mann schafft es tatsächlich, grausamere Worte zu finden, als ich mir überhaupt jemals in meiner Fantasie erträumen lassen könnte. Ich versuche wirklich, ruhig zu atmen und besonders auch ruhig zu bleiben, aber plötzlich fällt es mir so schwer. Ehe ich mich versehe, befinde ich mich in meinem Zimmer hinter verschlossener Tür und mein ganzer Körper bebt vor Zittern. Im nächsten Moment geben meine Beine bereits nach und ich falle auf meinen Hintern, während sich mein Rücken gegen die Tür reibt. Sobald mein Gehirn die Situation verarbeitet hat, schlage ich die Hände vor meinen Mund, um lautere Geräusche zu vermeiden, und unzählige Tränen bahnen sich still und leise ihren Weg über meine Wangen.

Ich weiß, dass ich nicht gerade die besten Noten schreibe, aber ich hasse es nun mal, zu lernen, weil ich mich einfach nicht darauf konzentrieren kann. Deshalb habe ich eben nur mittelmäßige Noten, aber ich gehöre immerhin noch zum Durchschnitt! Ich bin vielleicht nicht gerade die Beste in unserer Stufe wie Stephanie, aber meine Noten sind deshalb noch lange nicht katastrophal! Außerdem hatte ich in der Vergangenheit nicht viele Prügeleien. Noch dazu galten sie entweder dem, dass ich zuerst angegriffen wurde und mich einfach verteidigen musste, oder dem, dass die Personen Stephanie beleidigt haben. Also hatte ich meine Gründe und ich habe mir das sowieso auch abgewöhnt! In dieser Hinsicht bin ich gereift!

Was also hat er denn noch auszusetzen?

›Solange du ein Mädchen bist, wird er immer etwas an dir auszusetzen haben. Dann hilft es nicht wirklich, dass du ausgerechnet auch noch auf ein anderes Mädchen stehst.‹

Stephanie...

Warum läuft denn auch in unseren beiden Familien gefühlt alles schief? Warum muss denn verdammt nochmal gerade das uns beide verbinden!?

Dann versuche ich mir meine Tränen wegzuwischen, aber gleich darauf treten schon bereits die nächsten hervor. ›Du Idiot‹, scheltet mich meine innere Stimme, ›Wer von euch beiden hat es denn dann wohl schwerer? Dann wohl schlimmer getroffen? Du weinst hier gerade wie ein kleines Baby, weil dein Papa dir ein paar gemeine Worte an den Kopf geworfen hat? Im Vergleich zu Stephanies Problemen sind deine ja wohl lächerlich. Also hör schon auf, zu heulen!‹

Trotzdem gehorcht mein Körper nicht und unzählige Tränen fallen immer wieder zu Boden. Ich bin eben nicht so stark wie Stephanie, um das einfach ertragen zu können, oder so mutig wie Mum, um mich meinem Vater ernsthaft entgegenzustellen. Von wegen meine Mutter würde immer klein beigeben. Sie kämpft doch immer für mich! Ich bin hier doch der kleine, nutzlose Feigling.

Plötzlich fühle ich mich meinem Vater gar nicht mehr so sonderlich überlegen. Noch weniger weiß ich, ob diese ganze Sache mit diesem Jungen überhaupt noch eine gute Idee ist, wenn mein Vater trotzdem letztlich die Fäden in den Händen halten wird.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt