Kapitel 34

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[Stephanie:]

Ich habe einfach nicht verdient, dass sie mich liebt, und noch weniger, sie ebenfalls lieben zu dürfen. Warum also ist sie noch so nett zu mir...? So liebenswürdig...!? Warum hat sie denn so viel Verständnis für mich...!? Ist sie dann nicht nur völlig blind vor Liebe, dass sie jeden meiner Fehler und Makel bedingungslos akzeptieren würde...?

Und trotzdem bleibt mir am Ende nichts anderes übrig, als es einfach zu akzeptieren, weil ich irgendwo tief in mir drinnen weiß, dass sie recht hat. Sie hat mit allem, was sie gerade eben gesagt hat, recht.

Weiterhin strömen unzählige Tränen wie unaufhaltsame Wasserfälle über mein Gesicht und ich klammer' mich mit meinen zittrigen Fingern an ihrer Bluse fest. Dennoch weigere ich mich, nur einen Ton von mir zu geben, der Anna darauf hindeuten könnte, dass ich gerade wie ein kleines Baby am Weinen bin. Ein »Danke...!« kann ich irgendwie zwischen dem ganzen Geheule herauspressen. Wirklich, ich bin ihr für so viel dankbar: Dass sie immer für mich da war, falls ich wegen meiner Mutter wieder verzweifelt gewesen sein sollte. Dass sie mir für jeglichen Kram Tag und Nacht Gehör geschenkt hat, wenn ich mal ein offenes Ohr gebraucht habe. Dass sie mich damals vor einem noch schlimmeren Schicksal bewahrt hat. Dass sie mich immer wieder in die Arme nehmen und wieder auf den richtigen Weg führen würde, sollte ich mich selbst verlieren. Dass sie noch immer an meiner Seite ist und alles für mich tun würde, obwohl ich ihre Gefühle zurückgewiesen habe.

›Ich liebe dich.‹

Es wären einfache drei Worte, die mir nur über die Lippen gehen müssten, um zu meinem Glück zu finden, das meine Mutter nicht erreichen konnte. Es könnte so einfach sein, aber ich kann es nicht. Meine Lippen zittern und es kommt kein einziger Ton heraus. Ich habe schon wieder Angst – nur diesmal nicht um mein Leben, sondern dass sich alles verändern könnte. Deshalb verharren diese einfachen drei Worte auf meinen Lippen.

»Warum bist du eigentlich noch so nett zu mir...? Selbst nachdem ich dir so oft nur weh getan habe...?«, frage ich mit heiserer Stimme, nachdem sich das Weinen etwas eingestellt hat, »Gerade du hättest jeden Grund, mich abgrundtief zu hassen...!« Ich hasse es – wie ich mich gerade völlig gehen lasse. Anna weiß wahrscheinlich, dass ich im Augenblick so verwundbar und ehrlich bin. Deshalb hat sie mich vermutlich auch erst nach der Wahrheit gefragt.

›Du bist gerade nicht du selbst und sie nutzt das aus? Ist das nicht verwerflich?‹

Das stört mich aber nicht einmal wirklich. Was mich wirklich stört, ist es, dass ich dadurch wie ein kleines, labiles Mädchen wirke, das Hilfe gebrauchen könnte. Was ich unter gar keinen Umständen möchte, ist es nämlich, Schwäche zu zeigen, selbst wenn das mein wahres Ich ist.

Sie schweigt zunächst und langsam bereue ich, gefragt zu haben. Was ist, wenn ich sie damit nur daran erinnert habe, dass sie sich besser von mir fernhalten sollte, weil ich sie eben ständig so sehr verletze?

›Wie oft soll ich dir noch sagen, was dir die Ehrlichkeit nur alles beschert?‹, meine innere Stimme schnaubt verächtlich, ›Siehst du. Das hast du jetzt davon.‹

Am liebsten würde ich meine Worte wieder zurücknehmen.

»Selbst wenn ich wollte, ich könnte das nicht. Natürlich verletzt du mich öfters mal, aber na ja, ich kann nie anders, als dir das einfach zu verzeihen. Schließlich mag ich dich wirklich. Du müsstest es dann schon richtig verbocken, dass ich dich danach jemals hassen könnte.«

»Und was ist mit-« Mitten im Satz breche ich ab. Ich kann sie das nicht fragen. Vermutlich will ich es nicht einmal wissen. Sollte sie mir nämlich sagen, dass das mit Mark letztlich doch etwas Ernstes werden könnte, würde es mir das Herz brechen. Ich weiß, ich habe viel Mist mit anderen Jungs gebaut und gerade Anna hätte jedes Recht, es mir auf dieselbe Art und Weise heimzuzahlen, aber ich will es nicht. Es ist wirklich richtig egoistisch, aber ich will nicht, dass sie etwas mit anderen Jungs anfängt. Dass sie jemand anderem außer mir ihren Körper voll und ganz offenbaren könnte, bereitet mir bereits üble Magenkrämpfe und dass sie sich dann noch eventuell in jemand anderen verlieben könnte, lässt meinen Magen überaus schmerzhafte Purzelbäume schlagen.

»Mit?«, hakt sie nach. In ihrer Stimme schwingt Neugierde mit, während ich schwer schlucke.

Ich brauche eine Notlüge.

»Mit den ganzen Jungs, mit denen ich schon was hatte. Vielleicht mache ich das nicht mehr, aber ging das damals einfach für dich klar? Schließlich hast du dich nie nur einmal beschwert. War das also einfach okay für dich?« Ich hasse mich selbst dafür, ihr das in einem so vorwurfsvollen Ton an den Kopf geworfen zu haben. Immerhin war doch ich es gewesen, die diesen Mist abgezogen hat! Warum mache ich dann nur Anna dafür verantwortlich, dass sie mir nie ihre Eifersucht geradewegs gezeigt hat? Sie trifft doch keinerlei Schuld!

Ich beiße mir auf die Lippen. Dann hätte ich sie doch lieber über ihr Verhältnis zu Mark ausgefragt.

›Oder es besser ganz mit der Ehrlichkeit gelassen und gar nichts gefragt.‹

Sei doch bitte einmal still, okay?

»Natürlich ist es das nicht!«, erwidert sie mir zunächst mit lauter Stimme, was mein bebendes Herz etwas beruhigt. Plötzlich muss ich einfach stumm vor mich hin grinsen. Also ist es ihr nicht egal? Irgendwie freue ich mich über diese Tatsache.

Dann stoppt sie kurz und fährt mit bedeutend leiserer Stimme fort: »Aber ich akzeptiere es einfach. Schließlich wäre es doch toll, wenn du mal jemanden finden könntest, dem du voll und ganz vertrauen, zu dem du völlig ehrlich sein und bei dem du dich einfach gänzlich wohl fühlen könntest, oder nicht? So jemanden wünsche ich dir wirklich. Nach alledem wäre es einfach das Mindeste, das du verdient hättest.« Auf einmal packt mich das schlechte Gewissen. Abermals will ich sie trösten – will ihr sagen, wie ich für sie empfinde –, aber die Worte kommen einfach nicht über meine Lippen. Wie kann sie nur so offen und ehrlich mit ihren Gefühlen umgehen...? Wie kann sie überhaupt so gut mit Worten umgehen...?

Ich würde das auch gern können – in diesem Moment einfach völlig ehrlich sein und ihr meine Gefühle übermitteln zu können. Ich beneide sie so sehr darum, aber zugleich lassen mir ihre Worte keine Ruhe. Schließlich brauche ich niemanden mehr kennenzulernen, um diese besagt Person zu finden. Ich liege ja bereits in ihren Armen. Dass ich nicht völlig ehrlich bin, hat dabei nichts mit ihr zu tun.

›Es liegt einfach nicht in deiner Natur‹, ergänzt meine innere Stimme und lacht daraufhin hämisch.

Ich löse mich aus ihrer Umarmung und drücke ihr einen Kuss auf den Mund. Statt es schnell anzugehen, verweilen meine Lippen lange Zeit auf den ihren, während ich dieses Gefühl einfach genießen möchte. Ich liebe dieses angenehme Prickeln, das meinen Körper jedes Mal durchfährt, sobald wir uns schon nur küssen. Ich liebe den Geschmack ihrer weichen Lippen, von denen ich mich am liebsten niemals lösen möchte. Ich liebe ihren süßlichen Geruch, in dem ich mich jedes Mal aufs Neue verlieren könnte. Ich liebe es, wie sie und ich in diesen Momenten unsere Aufmerksamkeit voll und ganz nur auf uns beide richten. Ich liebe es einfach, wie sie mich in diesen Augenblicken immer in eine andere Welt entführen kann, die mich nicht so sehr quält wie die unsere – wie ich dann all meine Probleme und Sorgen zumindest für einen kurzen Moment vollkommen vergessen kann.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt