Kapitel 32

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[Anna:]

Sofort richtet sich mein Blick besorgt auf Stephanie, sobald ich die Kiste mit den Skalpellen erkenne. Ich schlucke die Wut auf mich selbst, weil ich die Box nicht schon vorher entdeckt und mich vor Stephanie gestellt habe, runter und hole es jetzt eben nach, selbst wenn der Effekt nun deutlich abgenommen hat. Ich positioniere mich vor Stephanie, sodass die beiden Mädels Stephanie beim Vorbeigehen nicht sehen sollten. Ich werfe einen Blick auf sie und sobald wir uns gegenseitig wahrnehmen, lächle ich ihnen sanft zu und begrüße sie mit einem einfachen »Hallo«, das sie beide erwidern. Ich kenne sie – zumindest vom Sehen her. Ich weiß nicht, wie sie heißen, aber sie sind in unserer Stufe – sogar zufällig in unserem Biologiekurs.

»Nein, du Idiot. Wir sollen die auf dem Pult abstellen. Ich glaube, Frau Mahrl meinte, wir würden heute mit dem Mikroskop arbeiten und sollen mit diesen scharfen Dingern hier die Blätter kleinschneiden«, schnappe ich auf, nachdem sie an uns vorbeigegangen sind. Ich beiße die Zähne zusammen.

Das sieht gerade verdammt schlecht aus.

Dann drehe ich mich wieder zu Stephanie um, um ihren Zustand abzuchecken und der sieht noch viel übler aus als die Aussichten, die wir eigentlich haben. Wenn ihre Atmung noch hektischer werden oder auch wenn sie so wie jetzt bleiben sollte, wird sie definitiv hyperventilieren.

Bevor mein Verstand sich überhaupt meldet, hat mein Körper sie bereits in eine feste Umarmung gezogen, während meine rechte Hand ihren Kopf sanft an meine Schulter drückt. »Es ist alles gut, Steph. Es ist vorbei. Sie sind weg. Die Skalpelle sind weg. Es gibt nichts mehr, wovor du dich gerade fürchten müsstest«, versuche ich beruhigend mit sanfter Stimme auf sie einzureden. Ironie des Schicksals ist es wohl, dass gerade dieses Mädchen in meinen Armen so viel in ihrem Leben fürchten muss. Ich hätte es verdammt nochmal früher bemerken müssen, dass diese Mädels spitze Gegenstände mit sich herumschleppen. Verdammt, ich hasse es, wie ich sie damals sowie heute nur in die Arme nehmen kann, wenn es schon zu spät ist.

Ich beiße die Zähne fester zusammen und ich verziehe gequält das Gesicht.

Ich hasse es, wie die Vergangenheit Stephanie einfach nicht in Ruhe lässt. Als wäre das Ereignis damals allein nicht schon schlimm genug gewesen, muss es auch noch bleibende Schäden hinterlassen haben.

Dann spüre ich, wie sie sich unter meinen Berührungen langsam zu entspannen beginnt und ihre Atmung wieder normal und ruhig wird, aber ich lasse trotzdem nicht sofort von ihr ab. Fürs Erste braucht sie dringend einen Halt, an den sie sich klammern kann.

Sobald mein Kopf wieder etwas klarer geworden ist, löse ich mich von Stephanie, doch meine Hände verweilen weiterhin an ihren Schultern, damit sie sich nicht alleine fühlen muss. Selbst wenn sie mich nicht mehr sieht, könnte sie dann doch zumindest meine Berührung, meine Wärme, spüren. Zumindest will ich mich an diese Hoffnung klammern, denn ich habe in Wirklichkeit keine Ahnung, was in ihr gerade vorgeht. Ich kann mir ihre innere Unruhe und die Gefühle wohl wahrscheinlich nicht einmal erahnen. Nein, ich will es mir nicht einmal vorstellen.

Ich schaue Stephanie in die Augen, während sie starr zu Boden blickt – als würde sie erneut wieder ins Leere starren. »Hör mal, Steph, lass uns verschwinden. Wir werden nicht in den Unterricht gehen. Hörst du? Wir werden jetzt gleich ins Sekretariat gehen und uns abmelden. Hast du verstanden? Wenn du dagegen sein solltest, schüttle den Kopf. Ansonsten werde ich dich notfalls auch dazu zwingen.« Keine Reaktion. Das war irgendwie zu erwarten. Wenn ich ehrlich bin, hätte ich sie auch schon zu meiner Idee gezwungen, selbst wenn sie sich geweigert hätte, denn uns bleiben genau zwei Möglichkeiten, wenn wir heute mit Skalpellen arbeiten sollten: Entweder gehen wir beide nicht hin oder wir tun es schon, aber ich allein werde skalpieren. Letzteres ist mir jedoch zu riskant. Sollte Stephanies Blick nur einmal aus Versehen auf eines der vielen Skalpelle fallen, wüsste der ganze Kurs und wohl bald auch die ganze Schule von Stephanies Angst – zumindest was in diesem Fall die Skalpelle angehen würden. Andererseits, selbst wenn sie keines anschauen sollte, würde Stephanies Verhalten zumindest wohl Einigen komisch vorkommen und man bräuchte kein Genie zu sein, um eine Erklärung für ihr Verhalten zu finden. Ganz ehrlich, mich schaudert es bereits beim bloßen Gedanken, jemand könnte sich ihre Schwäche dann zunutze machen, nur um sie damit zu verletzen oder in den Händen zu halten. Nein, das würde ich ganz bestimmt nicht zulassen.

Allen voran: Stephanie ist ja jetzt schon ein Wrack. Wie sollte sie dann noch den Biologieunterricht überstehen? Zum Glück kann jetzt keiner von den Leuten, an denen wir vorbeigehen, nur erahnen, woran das liegen könnte. Immerhin könnte sie auch gerade nur einen schlechten Tag haben. Trotzdem entgehen mir die ein oder anderen belustigten oder hämischen Gesicht sowie das Getuschel oder die fragenden Blicke nicht, aber ich ignoriere alles. Wenn ich meine Fassung jetzt verlieren würde, würde ich Stephanie nur alleine lassen – dabei braucht sie gerade jetzt meine Hilfe mehr denn je.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt