Kapitel 51

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»Darf ich hereinkommen?«, fragt mich meine Mutter vorsichtig und bleibt an der Türschwelle stehen.

Daraufhin schalte ich mein Handy aus und werfe es zur Seite. »Hat es dich jemals gekümmert, ob du es eigentlich darfst oder nicht?« In meiner Stimme schwingt Gleichgültigkeit mit. Ich richte mich auch nicht auf – bleibe an der Wand gelehnt sitzen. Mehr Mühen ist sie mir nicht wert.

»Nein, aber mittlerweile schon.« Noch immer wirkt sie wahnsinnig zurückhaltend und unsicher.

»Falls es wegen vorhin ist, dann brauche ich dein Mitleid nicht. Verhalt dich am besten wie immer«, ich blicke auf die Uhr über der Tür, »Ist Frau Karls schon gegangen? Ihr habt aber nicht sonderlich lange geredet.« Ich will nicht mehr über dieses Thema reden. Ich kann es sowieso schon kaum glauben, dass mir in meiner Wut einfach alles rausgerutscht ist. Was habe ich mir eigentlich nur dabei gedacht?

›Du wolltest die Schuld vollständig auf jemand anderes schieben – auf die Person, die es am meisten verdient hätte‹, erinnert mich meine innere Stimme und ich hätte lachen können. Ja, ich brauchte einen Sündenbock. Plötzlich ergreift mich doch das schlechte Gewissen. Vielleicht hat mit ihr erst alles angefangen, aber sie ist eigentlich unschuldiger, als ich mir eingestehen möchte.

›Auch sie hat ihre Vergangenheit hinter sich.‹

Und gerade davor habe ich immer die Augen verschlossen.

»Weil du gerade Priorität hast.« Ihre Stimme klingt fest und entschlossen – und reißt mich aus meinen Gedanken. Das schlechte Gewissen verfliegt, sobald ich mir wieder vor Augen führe, worüber wir eigentlich gerade reden – wie unser Verhältnis zueinander eigentlich ist. Warum kümmern mich die Gefühle einer Mutter, die mir immer mehr eine Fremde – sogar eher eine Erzfeindin – als eine Mutter gewesen ist?

Ich lache laut auf und setze mich nun im Schneidersitz auf meinem Bett hin. »Dass ich das noch erlebe! Ich und eine Priorität im Leben meiner Mutter! Ich glaube, ich träume.« Daraufhin fahre ich mir durch mein Haar. Was mache ich da eigentlich? Warum errichte ich nicht wie immer eine Mauer zwischen ihr und mir? Warum lasse ich zu, dass meine wahren Gedanken und Gefühle hindurchkommen – dass ich ihr meine Schwächen ganz offen und ehrlich präsentiere?

Ich kann es mir nicht erklären, nur weiß ich, dass ich mir einfach nicht anders zu behelfen weiß.

»Ich weiß, ich war immer eine Rabenmutter und ich will mich erst gar nicht als eine Mutter aufspielen. Ich will auch nicht, dass du mir unbedingt verzeihst, denn ich weiß, dass ich nichts wiedergutmachen kann. Nur...«, sie stoppt kurz und legt sich scheinbar die richtigen Worte zurecht, »Schon seitdem ich unerlaubt in dein Zimmer geschritten bin und dich so niedergeschlagen auf dem Boden gesehen habe, wollte ich mich ändern. Ich habe mich dir gegenüber immer miserabel verhalten, obwohl du nicht einmal etwas für mein Pech in der Liebe konntest. Ich habe nur meinen Frust und meine Wut an dir ausgelassen. Das habe ich erkannt. Ich habe immer nur mich und mein Leid gesehen und dabei gar nicht erst auf mein Umfeld geachtet, dem ich damit nur geschadet habe. Ich habe gar nicht erst sehen wollen, was ich mit meinem Tun alles anrichten könnte. Erst als ich deinen Kummer mit eigenen Augen gesehen habe, habe ich bemerkt, dass du genauso Gefühle wie ich hast, die selbst von einer Frau verletzt werden könnten, die du wohl abgrundtief hasst. Du konntest nie etwas für meine unglückliche Liebe und trotzdem habe ich dich dafür verantwortlich gemacht. Es...«, sie scheint wirklich um die Worte zu ringen, »Es tut mir wirklich leid.«

›Du kannst es ihr doch nicht verübeln, oder? Schließlich hast du genau gleich gehandelt‹, warnt mich meine innere Stimme, doch ich ignoriere sie. Sie soll gerade nur ihren Mund halten, denn sie nervt.

»Und du denkst, wenn du dich jetzt bei mir entschuldigst, ist auf einmal alles vergessen und wir könnten endlich Mutter und Tochter sein?« Ich rutsche zum Bettrand und stelle meine Füße auf dem Boden ab.

Die Ironie sollte in meiner Aussage überdeutlich herauszuhören sein.

›Gerade du solltest verstehen, wie es sich anfühlt, von seiner Vergangenheit beeinflusst und verändert zu werden.‹ Sollte ich, kann ich aber nicht – doch nicht nach alldem, was diese Frau getan hat.

»Nein. Ich könnte es verstehen, wenn du mich für immer hassen würdest. Scheinbar habe ich dir sogar weitaus mehr Leid zugefügt, als ich überhaupt erahnen kann – als ich dir überhaupt jemals hab' antun wollen. Das ist unverzeihlich«, sie zupft nervös an ihrem Oberteil herum, »Ich wollte dich nur wissen lassen, wie ich mich all die Zeit lang gefühlt habe, weil du mich an deinen Gefühlen und Gedanken ebenfalls hast teilhaben lassen.«

›Warum gibst du ihr keine Chance? Das ist doch alles, was du jemals wolltest: Dass sie ihre Fehler einsieht – dass sie Reue für ihre Schandtaten zeigt.‹ Ahh, diese Stimme soll endlich still sein.

›Du hast sie doch noch nie gehasst. Egal, wie sehr sie es auch verdient hätte, du konntest es nicht – es liegt nicht in deiner Natur. Immerhin ist sie deine Mutter. Du liebst deine Familie doch über alles, oder etwa nicht?‹

Dann entschließe ich mich dazu, meinen Blick abzuwenden, und seufze genervt. Ich will dieser penetranten Stimme nicht mehr lauschen müssen. »Oh ja, du hast recht! Du bist echt die miserabelste Mutter der ganzen Welt und du hast mich unglaublich verletzt – besonders als kleines Kind. Deshalb könnten wir als Mutter und Tochter ganz bestimmt nicht einfach von vorne beginnen«, ihre Augen gewinnen bereits an Traurigkeit, während ich ihr wohl zum ersten Mal seit Langem ein sanftes Lächeln schenke, »Aber wenn wir als Fremde starten, könnte ich mich vielleicht dazu erbarmen. Wir werden bestimmt nicht die besten Freundinnen werden, aber wenn du sagst, du willst dich ändern, will ich sehen, wie du das tust. Schließlich kann ich dann erkennen, ob ich mir eine Scheibe davon abschneiden sollte oder ob ich die Unbeholfenheit in dieser Sache auch noch von dir unbedingt hab' erben müssen und es besser gleich aufgeben sollte. Außerdem sage ich zu einer netteren Person hier im Haus ganz bestimmt nicht ›Nein‹.«

Ich werde es bereuen – ganz sicher –, aber ich will nicht schuld daran sein, wenn sich diese Frau nicht zum Besseren wenden konnte. Sie soll es versuchen und es mir beweisen. Ich will mich nämlich auch ändern. Warum dann nicht bei meiner Mutter anfangen? Es wäre doch schon schön, wenn wir beide zumindest miteinander auskommen könnten.

›Sei deinen Freunden nah, doch deinen Feinden noch näher.‹

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt