Kapitel 60

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[Anna:]

»Guten Nachmittag, Anna«, begrüßt mich mein Vater mit eiskalter Stimme. Daraufhin halte ich in meiner Bewegung inne und zucke kaum merklich zusammen. Wie kann man eine einfache Begrüßung nur wie eine Drohung klingen lassen?

»Guten Nachmittag«, grüße ich mit einem gekünstelten Lächeln zurück. Ahh, wann immer dieser Mann an Weihnachten mit am Tisch sitzt, verfluche ich dieses Fest. Wer möchte schon einen ganzen Tag mit diesem Kerl verbringen?

Dann steige ich die letzten Treppenstufen hinunter und schenke mir in der Küche einen heißen Tee ein. Eigentlich wollte ich Kakao, aber ich möchte dadurch nicht förmlich nach einer Belehrung bitten. Danach setze ich mich an den Esstisch, an dessen anderem Ende auch meine Mutter ihren Platz gefunden hat. Auch sie trinkt einen Tee, während sie mit einer Zeitung beschäftigt ist.

»Wie steht es um Mark und dich?«, fragt mein Vater plötzlich und ich verschlucke mich beinahe an meinem Tee. Sofort drehe ich mich mit offenstehendem Mund zu dem Kerl, der gerade die Zeitung weglegt und sich auf der Couch zurücklehnt, während mich sein strenges Augenpaar fixiert hält.

»Äh«, fange ich unbeholfen an und hätte mich gleich schon dafür ohrfeigen können. Nein, bei diesem Mann darf ich mir ganz sicher keine Fehler leisten. In seinen Augen muss ich doch perfekt sein, obwohl ich das niemals sein könnte. »Wir sind Freunde – nichts weiter. Weder er noch ich können uns mehr miteinander vorstellen.« Ah, mein Herz springt mir gleich noch aus der Brust. Ich will seine Reaktion gar nicht erst wissen.

»Ach ja?«, etwas Teuflisches blitzt in seinen Augen auf, »Wie wäre es dann, wenn ihr trotzdem zusammenkommt und vielleicht später auch noch heiratet? Ihr seid noch Kinder und unerfahren. Was noch nicht ist, kann immer noch werden«, schlägt er vor, ohne nur mit der Wimper zu zucken – so, als wäre es das Selbstverständlichste auf Erden.

Wie bitte? Mark und ich? Zusammenkommen? Allein schon bei dem Gedanken randaliert mein Inneres. Ja, ich mag ihn, aber ich liebe Stephanie. Dann kann ich doch nicht einfach eine Beziehung mit ihm anfangen!

›Aber du musst. Sonst fliegt doch deine Tarnung auf, oder nicht? Wie willst du dich herausreden?‹

Ist mir doch egal.

Ich springe auf und schlage dabei zugleich mit den Handinnenflächen auf den Tisch. »Das kann ich nicht. Ich sehe ihn nur als einen besten Freund. Es wäre falsch, etwas mit ihm anzufangen«, widersetze ich mich nun wahnsinnig kleinlaut, obwohl ich zuvor so eine Show abgezogen habe. Es ist fast schon so, als hätte ich Angst, gegen meinen Vater anzukämpfen.

›Du hast doch Angst‹, korrigiert mich meine innere Stimme.

Auf einmal sehe ich, wie der Zorn in den Augen meines Vaters lodert, und mein ganzer Körper spannt sich daraufhin krampfhaft an. »Du willst dich mir also widersetzen – in meinem Haus? Du möchtest mir wirklich weismachen, was richtig oder falsch ist?«

Ich schlucke schwer. Ah, es ist egal, was meine Mutter sagt. Ich hasse diesen Kerl einfach. Er ist das Letzte, wenn er seine Tochter dazu zwingen möchte, sich auf eine Beziehung mit einem Jungen einzulassen, den sie nicht will.

»Und was ist mit der Abmachung, die wir ausgehandelt haben? Meintest du nicht, du würdest dich an deinen Teil halten, sollte ich es ebenso tun?« Ich benötige jeden Einfall, der mir in den Sinn kommt, um diesen Mann davon zu überzeugen, von seiner Idee abzulassen, denn mir widerstrebt sein Vorschlag wirklich auf allen Ebenen.

»Welche Abmachung? Ich erinnere mich nicht an eine solche«, erwidert er nur mit erstaunlich gelassener, aber dennoch kalter Stimme, sodass es mir sogar das Blut in den Adern gefriert und es mir die Sprache verschlägt.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt