Kapitel 22

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[Anna:]

Ich halte beim Sprechen inne, sobald ich ein Krachen höre und frage auf der Stelle, was los sei, doch ich erhalte keine Antwort. Ich bleibe stehen und strenge meine Ohren an, um vielleicht heraushören zu können, was los sein könnte, jedoch gebe ich bereits nach mehreren Sekunden auf. Stattdessen sprinte ich los und stelle mich währenddessen stumm. Falls etwas sein sollte, würde mich keiner hören und so auf den Anruf aufmerksam werden. Ich packe mein Handy aber nicht weg, sondern behalte es stetig an meinem Ohr, während mich die Sorgen und die Angst zerfressen.

Bitte, ich verlange nicht viel im Leben, aber ich will nicht, dass Stephanie etwas zustößt! Lass es von mir aus ein verdammt schlechter Witz sein, aber ich will nur, dass es ihr gut geht! Dieses Mädchen hat doch schon genug in ihrem Leben gelitten!

Mein Atem wird schwerfälliger und das Seitenstechen und das Brennen in meiner Kehle animieren mich dazu, meinen Körper nicht zu mehr zu zwingen, als er eigentlich leisten kann, aber ich schalte keinen Gang runter. Ich will nicht, dass ich zu spät bin, nur weil ich zu langsam gewesen wäre – nur weil ich es mir gemütlich gemacht hätte, während Stephanie in Lebensgefahr schweben könnte.

Mich überkommt ein ungutes Gefühl. Es würde ihr auch einfach nicht ähnlichsehen, hieraus einen Scherz zu basteln. Nein, sie würde über so ein ernstes Thema keine Späße machen. Ich wünschte, dem wäre nicht so, aber das hier ist blanker Ernst.

Für einen kurzen Moment hab' ich mit dem Gedanken gespielt, die Polizei zu rufen, doch sie wäre doch erst viel zu spät da gewesen und außerdem würde sie mich doch sowieso nicht ernst nehmen. Ich mein', verdammt nochmal, ich könnte ihnen nur den Ort nennen, aber ich weiß ja nicht einmal, ob Gefahr besteht! Sie würden den Anruf ohnehin nur als einen Kinderstreich abtun. Diese wertvolle Zeit könnte ich mir auch sparen.

Außerdem würde ich mich nicht trauen, Stephanie in dieser Zeit im Stich zu lassen. Was, wenn ich durch dieses fortlaufende Gespräch wichtige Informationen erhalten könnte? Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn ich mir diese Chance für sinnlose Zeitverschwendung entgehen lassen würde. Genauso aber frustriert es mich, dass ich nicht ein Geräusch über das Telefonat wahrzunehmen scheine. Tue ich es nicht, weil ich selbst zu laut bin? Oder weil ihr Handy vielleicht kaputtgegangen ist? Oder ist die Verbindung abgebrochen? Ich traue mich gar nicht, nachzuschauen, denn ich will nicht auch noch den letzten Hoffnungsschimmer verlieren. Es wäre, als würde ich Stephanie damit ebenso verlieren und an diese Möglichkeit möchte ich gar nicht erst denken.

Das Brennen in meiner Kehle wird immer unerträglicher und ich scheine mehr zu laufen, als wirklich zu atmen, doch ich kümmer' mich nicht darum. Jede Sekunde, die ich mit solchen Kleinigkeiten verschwenden würde, könnte Stephanie letztlich vielleicht das Leben kosten. Ich nehme eine Abkürzung durch den Wald und stürze dabei einmal mies. Mein eines Knie beginnt zu brennen und ich bin mit Erde übersät, doch ich ignoriere beides. Ich muss instinktiv an Stephanies Leid denken, das sie jetzt zur selben Zeit bestimmt durchstehen muss. Also beiße ich die Zähne zusammen, stoße mich vom Boden ab und lege noch einen Gang drauf. Ich kann es mir einfach nicht leisten, hier meine Zeit zu verplempern!

»Bitte sag, dass es dir gut geht!«, murmle ich vor mich hin, doch es wird wohl mehr ein unverständliches Gestammel gewesen sein, denn für einen verständlichen Satz fehlt mir einfach jede Luft. Mich trennen nur noch wenige Meter von dem Spielplatz und bereits vom Weiten erkenne ich die Situation und der Horror ist leider alles andere als ein Scherz. Ich verziehe wütend das Gesicht, doch überlege schon im nächsten Moment, was ich am besten tun sollte. Es würde mir wohl nichts bringen, auf diese große Gestalt loszupreschen. Ich würde hinterher nur uns beide in Gefahr bringen – mich und Stephanie. Nein, ich muss anders an die Sache herangehen.

»Hier!! Herr Polizeibeamter, hier ist ein Kerl, der ein Mädchen bedroht!!! Kommen Sie schnell hierher, bevor er noch wegläuft!!«, rufe ich mit aller Kraft und habe zuvor schnell mein Handy weggepackt sowie mich an eine Stelle begeben, von der aus dieser Dreckskerl mich nicht sehen dürfte. Also könnte er dementsprechend auch nicht wissen, ob ich lügen oder es doch ernst meinen würde. »Beeilen Sie sich, er sollte gleich hier um die Ecke sein!«

Ich hätte mich selbst ohrfeigen können. Wie kann man nur so verdammt feige sein? Ich hätte dem Kerl lieber das Gesicht blutig schlagen sollen, aber das wäre unvernünftig gewesen. Ich bin vielleicht feige gewesen, aber das ist für Stephanie und mich eindeutig die sichere Variante gewesen.

Ich weiche einen Schritt nach rechts und sehe in das Gesicht des Arschlochs, in dem sich nun die Panik widerspiegelt. Er wirft einen flüchtigen Blick über die Schulter und läuft dann schnurstracks davon. Auf der Stelle stürme ich zu Stephanie und mir ist egal, ob der Arsch zurückkommen könnte. Ich bin laut genug gewesen, dass zumindest ein einziger Nachbar mich gehört haben sollte, selbst wenn hier nur wenige Häuser in der Nähe sind. Sollte er also wiederkommen, würde dieser besagte Nachbar bei einem weiteren Schrei hoffentlich die Polizei rufen.

Aber das ist mir sowieso egal.

Vor Stephanie bleibe ich stehen und ich vergesse beinahe das Atmen. Ich beiße mir auf die Unterlippe, um keinen entsetzten Schrei von mir zu geben. Ich denke, das ist das Letzte, was Stephanie zurzeit braucht. Auf der Stelle ziehe ich meine Weste aus und lege sie behutsam um sie, während ich langsam versuche, mit ihr Kontakt aufzubauen: »Hey, Steph, erkennst du mich? Ich bin's. Anna. Es ist vorbei. Hörst du? Es ist vorbei. Er wird nicht wiederkommen. Und dich ganz sicher auch nie mehr wiedersehen.« Oh ja, dafür würde ich ganz sicher sorgen.

Ihr Blick bleibt starr nach vorne gerichtet. Ich sehe, dass sie mir mitten ins Gesicht starrt, aber ich weiß, dass sie eigentlich durch mich hindurchschaut. Nein, eigentlich schaut sie ins Nichts. Sie befindet sich geistig gerade wohl nicht einmal am selben Ort wie ich.

Ich blicke auf ihren Körper herab. Sie scheint mir ziemlich unversehrt, dafür, dass sie in einer solchen Gefahr geschwebt hat. Dann fällt mein Blick auf einen zarten langen Strich an ihrem Hals, der durch das intensive Rot ihres Blutes sichtbar wird. Die Wunde sieht oberflächlich und nicht gerade tief aus, aber trotzdem reicht diese Verletzung, die zarten Verfärbungen ihrer Haut, die bereits auf üble blaue Flecken hindeuten, und ihr mit Schmutz bedeckter Körper sowie Stephanies leerer Blick aus, um mein Blut zum Kochen zu bringen. Ich balle die Hände zu Fäusten und stehe auf, um diesen Dreckskerl auf der Stelle aufzusuchen und ihm ordentlich die Fresse zu polieren. Nicht einmal unzählige Stunden der Folter würden meinen Hass und meinen Zorn auf dieses Arschloch unter Kontrolle bringen. Keine Strafe der Welt könnte das begleichen, was er ihr angetan hat. Verdammt, für ihn ist das vielleicht nur irgendein kranker Spaß gewesen, aber Stephanie muss unbändige Todesangst gehabt haben – nicht zu wissen, was der Unbekannte ihr noch alles antun wollen würde! Wie weit er gehen würde! Wovor sie sich eigentlich mehr zu fürchten bräuchte: Vor dem, was sie sich ausmalte, oder vor dem, was er tatsächlich vorgehabt hat!

Dafür würde er büßen müssen.

Bevor ich mich jedoch auf den Weg machen kann, scheint Stephanie meinen Plan durchschaut zu haben und greift nach meinem T-Shirt. Ich schaue zu ihr herab und verziehe darauf das Gesicht. Mir schießen Tränen in die Augen.

»Nicht... Bitte. Bleib hier. Lass mich nicht allein.« Ihr Blick ist flehend. Ihre Worte sind kaum mehr als ein Wimmern und doch hallen sie lauter und verständlicher denn je in meinen Ohren wider. Ich halte das nicht aus. Ich kann dem einfach nicht mehr standhalten. Ich falle unsanft auf die Knie und nehme Stephanie ganz fest in die Arme, während unzählige Tränen über meine Wangen fließen.

»Es tut mir leid«, meine Stimme bricht, »Es tut mir verdammt nochmal so sehr leid...!« Ich entschuldige mich immer wieder. Dabei weiß ich ja nicht einmal, wofür. Mich überkommen ganz einfach Schuldgefühle. Das Gefühl, dass ich alles hätte verhindern können, wenn ich mich nur etwas mehr beeilt hätte – wenn ich nur weniger geredet und den einen Fuß schneller vor den anderen gesetzt hätte. Oder wenn ich ihr nur gesagt hätte, dass sie wieder Nachhause gehen sollte, weil es draußen zu gefährlich sein könnte. Oder wenn ich nur früher ihr Leid gelindert hätte, sodass sie es gar nicht erst für nötig empfunden hätte, gerade heute rauszugehen. Verdammt nochmal, ich hab' so viele Chancen, so viele Möglichkeiten, gehabt und trotzdem hab' ich nichts getan! Ich hab' es zugelassen und zu spät reagiert...! Es tut mir so sehr leid...! Ich will am liebsten alles rückgängig machen...!

Aber ich kann es nicht. Das weiß ich. Und ich werde damit leben müssen.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt