Kapitel 43

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»Wie heißt du eigentlich?«, schaffe ich es irgendwie zwischen den Küssen zu hauchen. Er lässt mir ohnehin schon kaum Zeit zum Atmen. Wo bleibt mir dann noch die Zeit, an Dinge zu denken, an die ich nicht denken möchte?

Er erfüllt seinen Zweck voll und ganz.

»Spielt das denn gerade eine Rolle?« Ein schelmisches Grinsen breitet sich auf seinem Gesicht aus und ich tue es ihm gleich. Seine Einstellung gefällt mir. Ja, es ist gerade völlig egal. Womöglich könnte es wohl sogar den Moment zerstören. Also will ich davon nichts wissen. Mit Unwissenheit wäre ich schon öfters besser dran gewesen.

Ja genau, ich könnte mich gerade auf dem Bett eines Mörders befinden, aber es kümmert mich nicht. Er könnte mich nach dem Sex abstechen wollen, aber mein Inneres wehrt sich nicht dagegen. Es ist mir völlig gleich. Gerade will ich einfach nur vergessen – alles vergessen, was mir schaden könnte. Was mich verletzen könnte. Was mich traurig stimmen könnte.

Ich will gerade unheimlich gerne Anna vergessen.

Er legt seine Lippen wieder auf meine und bereits im nächsten Moment schiebt er seine Zunge dazwischen. Natürlich fühle ich dabei nichts – nicht so wie bei Anna –, aber heute soll es egal sein. Für sie würde sich ohnehin nie ein Ersatz finden lassen. Während den kurzen Atemzügen zieht er seinen Pullover aus und ich grinse. Er sieht sogar wirklich gut aus. Was könnte man sich denn noch mehr wünschen? Seine Muskeln sind wirklich schön anzusehen und dafür, dass wir einander sowieso niemals lieben werden, ist das doch mehr als genug. Es reicht doch, wenn wir Beide gut aussehen und einfach unsere Gelüste stillen können. Mehr können wir ohnehin nicht füreinander tun. Mehr als Muskelmasse wird er sowieso mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht besitzen.





[Anna:]

Ich will nicht zur Schule – wirklich nicht.

Ich liege wach in meinem Bett und es ist verdammt nochmal halb sechs. Ich könnte eigentlich noch schlafen! Aber nein, mein Körper mag es wirklich, sich zu weigern. Egal, wie lange ich die Augen auch geschlossen halte, die Müdigkeit ist einfach wie verflogen. Daher setze ich mich genervt auf und lehne mich gegen die Wand.

Vielleicht konnte ich mich gestern davor drücken, Stephanie wiederzusehen, aber ich kann nicht jeden Tag die Schule schwänzen und außerdem ging es mir gestern nach der Sache mit ihr wirklich miserabel. Aber, selbst wenn mir nicht viel an der Schule liegt, habe ich kein Interesse daran, das Schuljahr wiederholen zu müssen. Außerdem will ich das wirklich weder meiner Mutter noch meinem Vater erklären müssen.

Nein, ich muss mich ihr also stellen. Trotzdem will ich es nicht. Man wird auch ganz sicher reden, denn es kam noch nie vor, dass Stephanie und ich in einem Fach, das wir gemeinsam hatten, nicht nebeneinandersaßen, sofern es unsere Lehrer und die restlichen, freien Sitzplätze immer zuließen. Und jetzt werden wir uns auf einmal freiwillig auseinandersetzen? Mitten im Schuljahr? Das fällt bestimmt auf und es gefällt mir jetzt schon nicht. Wenn ich etwas hasse, dann ist es, Aufmerksamkeit auf mich zu ziehen.

Ich seufze und stehe auf. Es hätte ohnehin keinen Sinn – weder zu versuchen, wieder einzuschlafen, noch sich die Mühe zu machen, sich weiterhin den Kopf darüber zu zerbrechen. Daher gehe ich runter und treffe dabei leider auf meine Mutter. Wie viel Pech kann man denn auch haben?

»Guten Morgen, Schatz. Kannst du nicht schlafen?«, fragt sie mich besorgt. Wäre ich nicht normal so ein Morgenmuffel, würde sie mir wohl ansonsten nichtsahnend ein Lächeln zuwerfen. Daraufhin nicke ich nur stumm, während ich mir Müsli und Milch in eine Schüssel gebe und mich dann an den Esstisch setze. »Was ist denn nur los? Irgendwas stimmt doch nicht. Sag es mir doch bitte, Anna.« Anna. Ich muss schmunzeln, während ich wild in der Schüssel herumstochere. So würde mich meine Mum nur nennen, wenn es ernst war. Ansonsten vermied sie es, mich direkt beim Namen zu nennen. Weiß der Geier, warum.

»Sorry, Mum, aber ich will nicht darüber reden«, antworte ich abweisend und schaufle die erste Ladung Müsli in meinen Mund.

»Ist es etwa so schlimm?« Sie scheint mir immer besorgter zu werden – wie auch immer das bei ihr noch gehen soll.

»Ich will einfach nicht reden. Mehr nicht. Was verstehst du daran nicht?«, ich stoppe kurz, »Entschuldige, ich wollte dich nicht so anfahren, aber ich will gerade wirklich nicht darüber reden.« Wie denn auch? Wenn ich ihr den letzten Teil erzähle, müsste ich ihr automatisch alles erzählen, damit sie die gesamte Situation verstehen könnte, und ich habe ganz sicher nicht vor, sie von allem wissen zu lassen. Mir ist doch jetzt schon klar, dass sie diesen Deal zwischen ihr und mir nicht für gut befinden würde. Das würde immerhin niemand.

»Wirst du es mir aber erzählen, wenn dir danach sein sollte?«, fragt sie vorsichtig. Jetzt tut es mir wirklich leid, sie vorhin so angefahren zu haben. Dabei kann sie doch gar nichts für meine üble Laune.

Ich nicke und esse weiter, um nicht reden zu müssen, aber sie fragt mich ohnehin nichts. Stattdessen verschwindet sie im Schlafzimmer und taucht nicht einmal auf, sobald ich das Haus verlasse.

»Tschüss, Mama«, rufe ich, doch erhalte keine Antwort. Vermutlich habe ich sie mit meiner abweisenden Reaktion wirklich verletzt – oder auch einfach enttäuscht. Es gab nie Geheimnisse zwischen uns – zumindest nicht, dass wir diese voneinander wussten. Wahrscheinlich hat auch sie Geheimnisse, die ich mir vielleicht erahnen kann, aber nicht kenne, während das umgekehrt auch bei mir der Fall ist. Vorher ist es nur so gewesen, dass sie nicht wusste, dass ich welche vor ihr hatte. Spätestens jetzt könnte sie es jedoch nicht nicht wissen.

»Es tut mir leid, Mum«, murmle ich leise und lasse dann die Tür ins Schloss fallen.

Es tut mir leid, dass ich nicht einmal ehrlich sein könnte, selbst wenn ich später nach Hause kommen sollte. Selbst wenn Tage vergehen sollten, ich könnte es einfach nicht erzählen.

Niemandem.

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt