Kapitel 46

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[Anna:]

Stillschweigend zerrt mich Mark bis hinter die Schule – an einen Ort, an dem niemand anderes außer uns Beiden aufzufinden ist. Dann dreht er sich zu mir um, während mich seine Augen wütend anfunkeln. Das gefällt mir jetzt schon nicht. »Du hast mich stehen lassen – gestern. Hätte Stephanie mir nicht gesagt, dass du nach Hause gegangen wärst, hätte ich mir ernsthafte Sorgen gemacht«, ein Lächeln, hinter dem sich seine verletzten Gefühle verstecken, erscheint, »Ich hab' ihr sogar anfangs nicht geglaubt und hab' trotzdem gewartet – bis ich einsehen musste, dass sie die Wahrheit gesagt hat.«

Ich schweige – ich kann nichts anderes machen. Meine Lippen fühlen sich wie versiegelt an und wahrscheinlich wüsste ich nicht einmal, was ich hätte sagen sollen, selbst wenn ich es gekonnt hätte, denn seine unbändige Wut ist schließlich sehr wohl begründet. Ich senke meinen Blick. »Sorry, kommt nicht wieder vor.« Auf einmal wirkt meine Stimme auf mich so verdammt kleinlaut. Wie erbärmlich ist das Ganze eigentlich? Ich kann es selbst nicht in Worte fassen.

»Sorry? Das brauche ich nicht, Anna. Was ich möchte, ist eine Erklärung. Was ist zwischen dir und Stephanie denn passiert? Ist es wahr, was sie gesagt hat?«, er stoppt kurz, »Sind wir denn keine Freunde? Warum redest du dann nicht mit mir, wenn du Probleme hast?« Seine Stimme klingt flehend und sein Blick wirkt enorm verletzt.

›Freunde‹? Außer Stephanie hatte ich doch bisher keine. Ich hab' mich doch immer nur auf sie verlassen und ihr von allem erzählt. Als wir uns zerstritten haben, haben sich meine Gedanken doch immer nur um sie gedreht. Mark ist mir dabei nicht einmal in den Sinn gekommen.

Dann seufzt er. Ich zucke kurz zusammen. Es war ein einfacher Seufzer, aber dennoch meine ich, Enttäuschung und Verbitterung herausgehört zu haben. »Nach der Schule. Hier. Ich werde warten. Wenn du nach zehn Minuten nicht auftauchst, heißt das für mich, dass du über nichts reden willst. Kommst du, sei auch bereit, zu reden. Die Entscheidung liegt ganz bei dir. Ich bin der Letzte, der dich zu irgendwas zwingen möchte, Anna, nur tut es wirklich weh, wenn du dich mir nicht anvertraust, obwohl wir doch Freunde sind.«

Bereits im nächsten Augenblick möchte er sich umdrehen und verschwinden, als ich ihn davon abhalte. Ich will nicht noch jemanden verlieren, der mir wichtig ist...! »Verlässt du mich dann auch einfach, wenn ich nicht reden will? Wenn ich nicht das tue, was man von mir verlangt?« Was kann es denn anderes sein? Jeder ist nur an seinen eigenen Vorteilen interessiert. Weigere ich mich, denen nachzukommen, bin ich doch praktisch wertlos, oder nicht? So hat es Stephanie doch auch getan – mich einfach fallenlassen.

Einfach, weil sie die Welt mit genau solchen Augen sieht.

»Warum sollte ich? Wenn du nicht kommst, bedeutet das doch nur, dass du mir nichts von dem erzählen willst, was zwischen Stephanie und dir vorgefallen ist. Nichts weiter, Anna.« Seine feste, entschlossene Stimme gibt mir die Sicherheit, die ich gerade nur zu sehr brauche. Sie lässt mein Herz langsam zur Ruhe kommen und verhilft mir, mich zu entspannen.

Eigentlich hätte ich es wissen müssen. Mark ist doch schon immer so gewesen. Er würde mich niemals zu etwas zwingen, was ich nicht tun wollen würde. Insbesondere wenn's ums Erzählen geht, würde er mir immer diesen Teil der Privatsphäre lassen, selbst wenn es ihn interessiert. Er würde meine Entscheidung respektieren.

Meine Mundwinkel heben sich leicht. »Gut, dann bis später.« Mit diesen Worten verschwinde ich und lasse Mark an Ort und Stelle stehen. Er wird es mir wohl verzeihen, denn immerhin wird es ein Später geben. Ich werde kommen – auf jeden Fall. Gerade er hat die Wahrheit verdient. Besonders heute hat er bewiesen, dass er mich in keiner Situation im Stich lassen würde.

Anders als Stephanie.

Wie könnte ich ihm die Wahrheit dann vorenthalten? Ich bin es doch auch leid, jeden belügen oder ihnen etwas verheimlich zu müssen. Dann zumindest einen zu haben, der von allem weiß, kann doch nicht verkehrt sein. Außerdem denke ich nicht, dass er sich die Wahrheit mittlerweile nicht auch ohnehin schon irgendwie grob zusammenreimen könnte. Was spricht also dagegen, ihm gleich die ganze Wahrheit zu erzählen?

Never Be MineWo Geschichten leben. Entdecke jetzt