Kapitel 35

317 26 2
                                    

Mit einem großen Knall flog die Zimmertür hinter den Weibern zu. Mit einem lauten Seufzer schlug Levi das Buch zu, was er bis eben noch in Ruhe lesen wollte, und setzte sich aufrecht ins Bett. Die Gedanken blieben bei dem, was Mikasa ihm noch vor wenigen Augenblicken versucht hatte mitzuteilen: "Das bist nicht du, Levi!", hatte sie gesagt. Aber so ganz Glauben an dem Ganzen schenken konnte er nicht. Was war so falsch daran so zu sein? Man sagte doch immer, man solle sich selbst sein. Also warum reagierte Mikasa dann so?

Er verstand es nicht. So war er doch, oder nicht? Er war es schon immer so gewesen, daran glaubte er fest. Eren hatte ihn nur aus seinem Traum geholt. Dass er auch anders sein konnte und anders fühlen könne, als das Nichts. Aber jetzt, wo er nicht mehr da war, hatte Levi keinen Grund mehr, diesen falschen Traum aufrecht erhalten zu wollen. Ohne Zweifel, die Zeit mit dem Jungen war schön. Wahrscheinlich die schönste in seinem langen Leben. Er hatte nie gedacht, dass jemand seinem Leben so einen Sinn geben würde. Es fühlte sich komisch an, so darüber nachzudenken. Noch vor ein paar Jahren hatte er an seinem momentanen Lebensstil festgehalten. Gewalt war die Lösung für alles, so hatte er immer gedacht. Die Welt war grausam. Es gab kein Erbarmen und kein Mitleid. Fressen oder gefressen werden, das war die knallharte Realität in der zweiten Welt.
Aber... warum war die Zeit ohne sie so schön und friedlich? Wegen einer Person? Oder wegen dem scheinheilichen Gedanken, die Welt wäre anders, als er sie bis jetzt nur kannte?

Dieser Gewissenskonflikt preschte immer wieder in den Kopf des Prinzen ein, so dass er Kopfschmerzen bekam. Er wusste es doch eigentlich! Er wusste doch, warum es sich so anfühlte. Aber der Gedanke daran schmerzte ihn sehr. Der Halt war nicht mehr da. Und das war sein Verschulden. Er wusste doch, wie er den Jungen behandelte. Er wusste, dass dieser anfangs nur ein Mensch war, der auch Gefühle besaß. Er wusste, dass Menschen zerbrechlich waren. Und es hatte ihm trotzdem so Spaß gemacht zu zusehen, wie einer dieser Menschen vor seinen Augen den Glanz verlor. Wie paradox war es bitte? Er war einfach nur grausam. Er fügte aus Spaß anderen Schmerzen zu, und ergötzte sich an dessen Leiden. Aber was konnte er dagegen tun?

Was konnte er gegen sein Innerstes tun, was ihm immerzu zurief, es wäre richtig so? Was konnte er gegen diesen verlockenden Geruch machen, der ihm all die Sinne raubte? Was konnte er gegen den lauten, befriedigenden Klang in seinen Ohren tun, wenn seine Opfer im Angesicht des Todes standen? Es war die Hölle. Er wusste keinen Ausweg. Und dennoch wollte eine Seite in ihm diesen Kreislauf nicht unterbrechen. Diese Seite wollte die verzweifelten Schreie hören, das Blut seiner Opfer auf seinen Händen haben, das letzte Funkeln in den Augen verhauchen sehen, ehe sie schwarz wurden. Es gab ihn ein Gefühl der Macht. Und er konnte nicht leugnen, dass es ihn nicht erfüllte.

Die andere Seite, die noch so dünn bestückt war... Sie wollte all dieses Grauen nie durchlaufen. Diese Seite fürchtete sich davor, in den tiefen der Dunkelheit zu versinken. Sie wollte durch das Licht gehen und denken: "Ich habe ihn gefunden, meinen Weg." Aber sie wurde erstickt. Erstickt in dem Blut seiner Opfer. Ihre Anzahl war beängstigend hoch. Diese Seite wollte doch nur geliebt werden und glücklich sein. Sie wollte ihre Hände reinwaschen, von dem Blut, dass diese dauerhaft benetzte. Sie wollte flüchten aus diesem Grauen. Sie wusste genau, dass dieses Handeln falsch war. Sie wusste, was sie für Folgen hatte und wie viel Leid er durchlief, jedesmal, wenn er seine Tat vollbrachte. Doch diese Gewichte waren zu unterschiedlich verteilt, so dass er in vollem Einklang hätte leben können.

Levi schüttelte den Kopf.

Er sollte nicht weiter darüber nachdenken. Es würde in seinem Zustand nichts Gutes dazu beitragen, über irgendwelche Fehler von ihm zu philosophieren, wenn er es eh nicht mehr ändern konnte. Das wusste er. Es gab keinen Ausweg aus der Hölle, denn er wurde in Schwärze geboren. Und die wichtigste Person in seinem Leben war fort, seinetwegen. Er musste damit Leben, egal ob er wollte, oder nicht. Daran konnte man nichts mehr ändern.

"Eren ist tot. Das muss ich endlich verstehen... Er hat mich verlassen."

Biss zum Morgenrot [Ereri/Riren]Wo Geschichten leben. Entdecke jetzt