Einundvierzigstes Kapitel

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Die Tasten rattern unter meinen Fingern, immer schneller, immer lauter. Dafür ernte ich einen bösen Blick von meinem Pultnachbarn. In der Bibliothek ist es mucksmäuschenstill, nur mein Laptop und das leise Rascheln von Buchseiten erklingen im riesigen Raum.

Obwohl mir der vorwurfsvolle Blick unangenehm ist, höre ich nicht auf. Schliesslich ist es nicht meine Schuld, dass Apple laute Tastaturen verkauft. Und meine Arbeit sollte so langsam fertig werden, wenn ich all die Abgabetermine einhalten will. Wenn ich mich einmal eine halbe Stunde lang völlig konzentrieren kann, muss ich das ausnutzen.

Mein Handy vibriert, eine Nachricht von Skye erhellt den Bildschirm. Als ich ihren Namen lese, drehe ich das Telefon sofort um und widme mich wieder meiner Arbeit. Noch vierhundert Wörter, dann habe ich es geschafft. Was lässt sich an Genettes Paratext-Theorie noch kritisieren? Ich versuche, auf meinem Mindmap irgendwelche noch nicht verwendeten Notizen zu finden.

Eine anstrengende Stunde später klappe ich meinen Laptop vorerst zu und stehe auf. Dabei schleift mein Stuhl mit einem Quietschen über den Boden, ich ziehe eine Grimasse. Schnell flüchte ich aus dem hohen Raum und hole mir beim alten Automaten im Gang einen lauwarmen Kaffee. Miles sollte nun jeden Moment um die Ecke gelaufen kommen – wir haben uns zum Lernen verabredet. Als hätte er meine Gedanken gehört, biegt er sogleich um die Ecke.

„Hi Sin", grüsst er mich freudig.

„Hallo", antworte ich und umarme meinen Freund kurz, aber dankbar. Auch Miles wirft einige Münzen in den Automaten, um seine tägliche Koffeindosis aufzustocken. Mit den zwei Pappbechern setzen wir uns auf eine Bank am Fenster und tauschen uns über den Lernstress und das schwierige Unternehmen aus, den Unterricht mit dem Tanzen zu vereinbaren. Auch Miles kommt langsam zeitlich an seine Grenzen.

„Und was ist jetzt eigentlich mit Alan?", platzt Miles unschuldig heraus. Ich habe mich bereits darauf eingestellt, dass er danach fragen wird. Obwohl ich keinem meiner Freunde von Skyes Beichte und meinem Gespräch mit Alan erzählt habe, scheint er Bescheid zu wissen. Das überrascht mich nicht. Mein Vertrauen in Skye ist so gebrochen, dass ich mir sogar vorstellen kann, wie sie sich vor unseren Freunden gerechtfertigt hat. Es ist wohl besser, wenn ich das gar nicht zu genau weiss.

„Nichts ist mit Alan", antworte ich ausweichend. Wieso müssen sich Miles und die Anderen auch einmischen? Gestern habe ich bestimmt zehn Nachrichten von ihnen bekommen, dass ich sie anrufen soll. Ich habe auf keine geantwortet.

„Sin", erklärt Miles entschuldigend, „ich will dir nicht zu nahetreten. Eigentlich geht es mich ja nichts an. Aber als Dylan und ich... als wir mitten in unserem Streit waren – nicht, dass er nun vorüber ist, übrigens – warst du für mich da, und ich will das Gleiche auch für dich tun."

Einen Augenblick lang starren wir uns stumm an, keiner weiss weiter. Schliesslich verändert sich etwas in seinen Augen – Mitleid mischt sich in seinen Blick als er ausholt:

„Skye hat erzählt, dass ihr euch wegen Alan gestritten habt. Das ist sicher nicht leicht für dich. Ich weiss, wie wichtig er dir ist."

„Wir haben uns nicht wegen Alan gestritten, Miles", verbessere ich giftig. „Wir haben uns wegen Skye gestritten. Alan war nur der Auslöser."

„Was meinst du damit?"

Ich überlege einen Moment, um mich unter Kontrolle zu halten, und massiere meine Hände.

„Alan war das Thema, ja. Er ist der Grund für unseren Streit. Aber wir haben uns nicht wegen seinen Taten gestritten, sondern wegen ihren", erkläre ich mit wenig Hoffnung. Insgeheim bin ich mir sicher, dass mich niemand wirklich verstehen wird.

„Aber haben Alan und Skye das nicht gemeinsam zu verantworten?", will Miles verwirrt wissen.

„Ich weiss nicht", zögere ich kopfschüttelnd. „Irgendwie schon, ja. Aber Alan kennt mich nicht so wie Skye, weisst du. Er weiss nicht, wie wichtig mir Ehrlichkeit ist. Und wie sehr mich so etwas verletzen kann. Skye kennt mich besser als jeder andere. Sie hat genau gewusst, was sie mir damit antut."
„Ich verstehe", meint Miles nun leise und nimmt einen Schluck Kaffee. Die Tür zum Lernraum geht auf und eine Studentin mit langen Zöpfen tritt in den Gang. Wir bleiben stumm, bis sie weg ist.

„Das ist wirklich eine doofe Situation", raunt Miles.

„Wieso meinst du?"

„Naja, Skye geht es auch nicht gut deswegen", erklärt Miles zu meinem Entsetzen. „Sie meinte, dass sie dir schon etliche Male geschrieben hat, aber du nicht antwortest. Sie hat nicht realisiert, dass das für dich so eine grosse Sache ist."

„Wie bitte?", platzt es viel zu laut aus mir raus. „Ist das dein Ernst?"

Als ob die ganze Sache nicht schon schlimm genug wäre, symphatisieren meine Freunde allen Anschein nach auch noch mit Skye. Ich habe es geahnt. Und trotzdem ist es ein Stoss gegen mein Herz.

„Ich sage nicht, dass sie recht hat", verteidigt sich mein Freund sofort und hebt symbolisch versöhnlich seine Hände. „Ich sage nur, dass ihr euch beide schlecht fühlt und es sicher helfen würde, wenn ihr noch einmal miteinander redet. Und versucht, euch gegenseitig zu verstehen."

Ich schüttle den Kopf. „Dazu bin ich nicht bereit. Noch nicht."

So gerne ich mit einem Freund über meine Lage sprechen würde, über den Schmerz tief in meinem Inneren, über das Stück, das aus mir herausgerissen wurde, ich kann es nicht. Nicht hier, nicht mit Miles. Und auch mit keinem meiner anderen Freunde. Sie alle stehen zwischen Skye und mir. Sie auf eine Seite zu zerren wäre unfair gegenüber Skye. Ich kann nur hoffen, dass sie die Gutmütigkeit unserer gemeinsamen Freunde auch nicht ausnützen wird. Bleibt nur, dass ich alleine damit klarkomme. Mit einen Verrat, einer Enttäuschung, für die ich womöglich drei Herzen bräuchte, um sie zu verkraften.

Während ich meinen leeren Kaffeebecher in den Müll schmeisse und zurück an meinen Platz schlurfe, drehen sich meine bitteren Gedanken im Kreis. Meine Freunde sind wie eine Familie für mich. Und doch kann ich mich in meinem schlimmsten Moment an keinen von ihnen anlehnen. Und dann ist da Skye...

Meine beste Freundin, meine Schwester. So viele Male habe ich mich ihr gegenüber für die kleinsten Dinge schlecht gefühlt, so oft hat sie mir versprochen, für immer und ewig für mich da zu sein und meinen Rücken freizuhalten. Hat sie das Versprechen gebrochen? Oder haben wir so vollkommen verschiedene Ideen vom Leben, von Freundschaft und Vertrauen? Und wer sagt, dass dann nicht alle Menschen so ticken? Dass nicht jeder in einem gewissen Moment sein Glück über meins wählen würde?

Selbst als ich meinen Laptop aufklappe und aus meinen Kopfhörern leise Musik erklingt, bewegen sich meine Gedanken nicht von dem Gewirr in meinem Kopf weg. Oder besser gesagt in meinem Herzen.

Wieso kann mir das alles nicht einfach egal sein? Ich scheine die Einzige zu sein, die Skyes Tat als Verrat, als Ungerechtigkeit, ansieht. Habe ich mich so sehr in meinen Freunden getäuscht? Ich habe so lange geglaubt, endlich Gleichgesinnte gefunden zu haben. Menschen, die mein Herz spiegeln. Aber sie schlagen in einem komplett anderen Rhythmus. Und mein eigenes kann sich ihrem nicht anpassen.

Bin dann ich es, die aus der Reihe fällt?

Bin ich es, die irgendwie falsch ist?

All die Selbstzweifel kommen auf einen Schlag zurück. All die Unsicherheiten, die ich über Jahre hinweg zu akzeptieren gelernt habe, rasen nun auf mich zu. Und all meine Ängste, Alan zu verlieren oder ihm nicht gerecht zu werden, drohen mich zu erdrücken, mich zu ersticken. So sehr, dass ich die Worte auf dem Bildschirm kaum mehr erkennen kann.

Rastlos packe ich alle meine Lernsachen zusammen und verlasse die Bibliothek ohne mich von Miles zu verabschieden. Im Gehen streife ich mir meine dünne Jacke über und wechsle die Musik. Dann nehme ich den nächsten Bus nach Hause, obwohl es noch nicht einmal vier Uhr nachmittags ist.

Der ganze Stress kombiniert mit meinem kreisenden Gedankengewirr drohen mich zu übermannen, ich kann keinen klaren Gedanken mehr fassen, kann kaum mehr die Menschen im Bus erkennen. Fühlt sich so eine Panickattacke an? Oder ist das einfach nur Erwachsenwerden?

Auf dem Weg nach Hause haltet mein Bus auch an der Haltestelle, an der Alan immer auf mich wartet. Ein Teil von mir erwartet fast, dass er dort steht, auf seine übliche, gelassene Art, und mich mit offenen Armen empfängt. Aber die Haltestelle ist leer. Obwohl es noch nicht direkt eindunkelt, geht plötzlich die Lampe im Wartehäuschen an. Das Licht beleuchtet die Bank in einem grellen Weiss. Nicht Lila. Die Lampe wurde ausgetauscht.

Ich will aufweinen, aber ich bleibe stumm.

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt