Fünf Tage später hat mein Dank in Verwirrung umgeschlagen. Noch zwei Tage bis Weihnachten und noch nie ist meine Vorweihnachtszeit so voller unerwarteter Begegnungen gewesen.
Obwohl ich nur zum Tanzen und für ein einziges Treffen mit Dylan und Miles das Haus verlassen habe, war ich eben doch jeden einzelnen der fünf Tage in der Stadt. Und mit der Ausnahme von einem einzigen Abend habe ich an meiner Bushaltestelle immer jemanden auf der anderen Seite beobachten können. Ich weiss nicht, wie er mir vorher nicht hat auffallen können. Vielleicht ist er erst vor Kurzem hierhergezogen? Oder hat eine andere Arbeitsstelle angenommen, welcher ihn zu meiner Bushaltestelle verschlägt? Absolut sicher ist lediglich, dass er definitiv nicht schon immer dagestanden hat. Er wäre mir bestimmt sofort aufgefallen.
Ich bin gerade daran, unseren kleinen Weihnachtsbaum mit blauen und goldenen Kugeln zu schmücken. Die Nadeln der Tanne pieken mich immer wieder, dennoch geniesse ich den Duft des frischen Bäumchens. Wenn es nicht der Geruch von Moms Plätzchen ist, der aus der Küche strömt, dann sind es definitiv meine flauschigen Socken und das Grün des Weihnachtsbaumes, die mich langsam aber sicher auf Heiligabend einstimmen.
Während ich die nächste Kugel an ein Ästchen hänge, schweifen meine Gedanken vom wohligen Geruch wieder zu meiner Verwirrung ab. Natürlich bin ich auch nicht ganz unschuldig daran, dass der Fremde und ich uns nur an einem Abend verpasst haben. Denn obwohl es oft sehr knapp wurde, habe ich alles darangegeben, meinen üblichen Bus zu erwischen.
Noch immer habe ich keine Ahnung über den selbstsicheren Jungen, der immer so sorglos auf seinen Bus wartet. Und obwohl ich gerne etwas über ihn erfahren möchte, finde ich dies nicht zwangsmässig nötig. Es reicht, dass er da ist. Dass seine Anwesenheit mein Herz jeden Tag ein wenig höher schlagen lässt. Manchmal reicht es zu wissen, dass da draussen jemand ist, der einem das Leben ein bisschen froher macht.
Daher kann wohl auch nicht direkt von Zufall geredet werden, dass der Fremde jeden Abend meinen Weg gekreuzt hat. So habe ich Miles' Einladung auf eine warme Schokolade bei ihm nach unserem Treffen dankend abgelehnt, damit ich meinen Bus nicht verpassen musste. Und der Fremde ist wie üblich bereits an der gegenüberliegenden Bushaltestelle gestanden und hat auf mich gewartet. Jedenfalls so gut wie.
Lächelnd greife ich nach der nächsten Kugel und hoffe dabei inständig, dass meine Mutter sich nicht plötzlich aus der Küche ins Wohnzimmer begibt. Sonst müsste ich mir mein dämliches Grinsen nämlich verkneifen, was bei meinem geradigen Gedanken ziemlich unmöglich ist. Nicht nur einmal, sondern gar die letzten beiden Male habe nicht nur ich den Jungen angeschaut, sondern er auch mich registriert. Und die beiden vergangenen Abende hat er mir beide mit einem Lächeln versüsst. Ich konnte nicht anders und habe sofort zu Boden geblickt, als er das getan hat. Peinlich berührt, dass er mein Starren wohl nach all den Tagen recht deutlich auf sich gespürt hat, und gleichzeitig wahnsinnig glücklich über sein ehrliches Grinsen, konnte ich nicht anders.
„Sinia, Kleine", ruft mein Vater nach mir und ich verdränge mein Grinsen so gut es geht. Im nächsten Moment tritt er in unser Wohnzimmer und stemmt seine Hände auf die Hüfte.
„Hast du nachher zufällig etwas Zeit?", fragt er mich mit gerunzelter Stirn. Ich unterdrücke ein Stöhnen, da ich genau weiss, weshalb er fragt.
„Mom?", schreie ich quer durch das Wohnzimmer, woraufhin meine Mutter ihren blonden Lockenschopf in den Durchgang schiebt.
„Wo brennt's?", fragt sie ehrlich verwundert.
„Muss ich dir nachher noch bei den Plätzchen helfen?"
Ich bin mir ehrlich unsicher, was schlimmer wäre: Den Nachmittag mit Mom in der Küche zu verbringen oder mir bei Dad von seinen Mechanikern etliche Märchen erzählen lassen zu müssen.

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Lila Lichter
Romance"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...