Lila Lichter

Achtzehntes Kapitel

Die ersten zwei Tage des neuen Semesters haben mich bereits ordentlich gerädert, als ich am Dienstagabend in Annies Tanzstudio meine Turnschuhe anziehe. Obwohl mein Kopf von den zwei Seminaren am Nachmittag raucht, stehe ich auf und fange mit dem Einwärmen an. Im Hintergrund läuft noch klassische Musik von der vorherigen Ballettstunde.

Die Muskeln in meinen Beinen sträuben sich gegen die Dehnung und ich atme tief in sie hinein.

„Hallo meine Lieben", begrüsst uns Annie und stellt die Musik ganz aus. Meine fünf Tanzkameradinnen hocken noch müde vom langen Tag am Boden und rappeln sich semimotiviert auf.

„Sin", ruft Annie unerwartet nach mir, „kannst du kurz raus? Katie will dich kurz sprechen. Wärm dich dann einfach auf, während wir die Choreo repetieren."

„Okay", nicke ich überrascht und durchquere den hohen Raum mit leichten Füssen. Dabei werfen mir meine Freundinnen fragende Blicke zu, die ich mit einem ahnungslosen Schulterzucken beantworte. Habe ich etwas getan oder gesagt, dass jemanden verärgert hat? Oder ist die Zahlung für meine Tanzstunden noch nicht eingetroffen?

„Ich bin hier", ruft eine helle Stimme aus einem kleinen Nebenstudio. Ich gucke herein und erblicke Katie sofort. Sie sitzt auf poliertem Parkettboden und schaut von den Blättern vor ihr zu mir auf. Doch in den Spiegeln an der Wand spiegelt sich nicht nur ihre Figur.

„Komm rein", winkt mich die Tänzerin lächelnd herein. „Das ist Eamon."

„Hallo."

Ein junger Mann kommt mir mit vorgestreckter Hand entgegen, die ich etwas überfordert schüttle. Eamon ist gross, sicher einen Kopf grösser als ich, und mindestens so durchtrainiert wie Dylan. Seine dunkelblonden Locken trägt er in einem Knoten am Hinterkopf.

„Hi, ich bin Sin", stammle ich schüchtern.

„Wir halten dich nicht lange auf, versprochen", versichert mir Katie und steht geschmeidig auf. Gleich darauf zieht sie mich in eine leichte Umarmung, die ich etwas überrumpelt nur halbwegs erwidere.

„Kein Problem", stammle ich mit klopfendem Herzen. Das hier riecht nicht nach einer Standpauke.

„Das wird jetzt wohl etwas überraschend kommen", fängt Eamons tiefe Stimme an. Katie schaut ihn verschwörerisch an und richtet sich dann an mich.

„Hast du schon mal was vom April Showcase gehört?"

Ich nicke, natürlich habe ich das. Allerdings war ich noch nie im Publikum, geschweige denn auf der Bühne. Am Showcase zeigen jährlich die vielversprechendsten neuen Choreographen aus der Region ihre neuen Stücke. So viel ich weiss werden alle Einnahmen an den Teenager Cancer Trust – also Zugunsten von krebskranken Jugendlichen – gespendet. Ausserdem dient das Showcase als Plattform für junge Tänzer, die gefördert werden sollen.

Mein Blut rauscht durch meine Ohren und ich beisse mir vor Aufregung auf die Lippe.

„Nun ja, ich wurde angefragt, dieses Jahr eines meiner Stücke zu zeigen", erklärt Katie mit einem vielsagenden Grinsen. „Eamon hat bereits eingewilligt, mitzumachen. Er gibt meinen Stücken immer wieder die nötige raue Seite."

„Nun übertreib mal nicht", grinst Eamon, „ich folge nur deinen Anweisungen."

„Du weißt, was ich meine. Sin, nun zu dir. Normalerweise tanzt jeweils Maisie den weiblichen Part, aber für dieses Stück eignet sich ihr Tanzhintergrund nicht. Sie ist eine fantastische Tänzerin, fokussiert sich aber auf HipHop und House, weißt du. Und ich will mich nun selber mit einem Contemporary Stück herausfordern."

Ich nicke nur blöd, ohne wirklich zu realisieren, in welche Richtung die Erläuterung geht.

„Natürlich wird das so oder so ziemlich experimentell, da wir alle so noch nie zusammengearbeitet haben. Aber – um endlich zum Punkt zu kommen – wir würden gerne jemanden Neues fördern und mit Eamon partnern. Und wir haben dabei an dich gedacht."