Bin ich etwas Besonderes? Kann es Besonderes überhaupt geben? Und wenn ja, was macht das Besondere dann aus?
Irgendwer hat das Besondere einmal der Individualität zugesprochen. Individualität = Besonderes. Aber das stimmt nicht. In einer Welt von acht Milliarden Individuen ist es nicht die Einzigartigkeit einer Person, die sie besonders macht. Es ist nicht die Leidenschaft, die diese Person mit vielleicht zwanzig Millionen anderen Menschen teilt, die sie von ihnen unterscheidet. Es ist nicht das Aussehen dieser Person, die es vom Rest unterscheidet.
Kann es in einer Welt von acht Milliarden ganz unterschiedlicher und dennoch verblüffend ähnlicher Menschen überhaupt jemanden Besonderes geben? Und wer entscheidet dann, wer das ist?
Ich fühle mich besonders, heute und hier. Aber ich bin ganz und gänzlich unbesonders. Ich bin durchschnittlich. Ich kann weder zaubern, noch habe ich den Mut eines Helden, noch habe ich ein besonders reines Herz. Es gibt nichts, was mich von den anderen acht Milliarden Menschen unterscheidet, und doch bin ich etwas Besonderes. Jedenfalls bin ich das für einen Menschen. Und das ist überwältigend.
Flüstere meinen Namen. Erklär mir, wer ich bin. Beschreib mir, was du siehst. Du sprichst in Rätseln, die ich nicht verstehe. Du erinnerst dich an mich, aber ich existiere nicht. Du füllst die Dunkelheit in mir mit Licht. Ich gehe unter; in deinen Augen, in deiner Stimme, in deiner Berührung.
Ich schaue die letzten Zeilen noch einmal an. Zugegeben, sie sind etwas abstrakter herausgekommen, als erwartet. Etwas verstrickter, als ich mich normalerweise ausdrücke. Aber sie beschreiben perfekt, was ich gerade fühle.
Eine eisige Briese weht die Seite meines vergilbten Notizbuches um. Mit klammen Fingern lege ich den schwarzen Kugelschreiber in das Büchlein und schliesse es zu. Dann wickle ich das Lederband darum.
Es ist Mittwoch, der zweite Januar. Ich sitze in unserem Hintergarten auf Moms metallener und magisch verschnörkelter Sitzbank. Das Metall ist eisig. Obwohl bisher kein Schnee liegen geblieben ist, strahlt der frostige, kleine Garten eine unglaubliche Ruhe aus. Ich atme die kalte Luft tief ein. Obwohl mein Körper vor Kälte zittert, brennt mein Herz.
Etliche weitere Zeilen kommen mir in den Sinn, die unbedingt aufgeschrieben werden möchten. Über Alan. Über unseren Kuss. Über Silvester, das beste Silvester überhaupt. Über den Beginn eines neuen Jahres, das plötzlich so viel versprochen hält.
Aber die Zeilen müssen noch warten. Nicht nur sind meine Finger durchgefroren, sondern das wenige Tageslicht hat sich so weit verflüchtigt, dass ich kaum mehr erkenne, was ich aufschreibe.
Mit wenigen Schritten durchquere ich unseren gespenstisch stillen Garten. Im Haus empfängt mich eine wohlige Wärme und ich schiebe die Fenstertür sofort hinter mir zu, um sie drinnen zu bewahren.
Die marmorne Uhr an der Wand zeigt halb fünf an. Obwohl die meisten Leute heute frei haben, wird Daddy noch einige Stunden in seiner Werkstatt bleiben. Ich schätze, das ist der Nachteil eines eigenen Geschäfts. Mom hat sich mit einer Freundin verabredet und wird ebenfalls noch eine Weile wegbleiben.
Ich habe das Haus für mich. Sofort steuere ich in unsere grosse Küche und schmeisse eine Packung Popcorn in die Mikrowelle. Dann lege ich meine Jacke und Schuhe in den Eingang und mein Handy, das bereits wieder im Akkusparmodus läuft, auf den Couchtisch. Mein Ladegerät liegt oben in meinem Zimmer, aber wie so oft bin ich zu faul, um es zu holen.
Ein Beepen der Mikrowelle und der himmlische Geruch von Popcorn verraten, dass mein Snack abholbereit ist. Vorfreudig schlittere ich über den glatten Plattenboden in die Küche. Summend und tänzelnd schütte ich das Popcorn in eine Schüssel – nachdem ich erst mal eine Handvoll in meinen Mund gestopft habe. Natürlich verbrennt mir das noch heisse Popcorn fast meine Zunge, aber der buttrig salzige Geschmack ist so herrlich, dass ich mit den Lippen gleich noch einmal einige aus der Schüssel angle.
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Lila Lichter
Romance"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...