Sechsundvierzigstes Kapitel

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Nachdem ich mich wieder einigermassen gefasst habe, meinen Vater angerufen und ihm meinen Standort übermittelt habe, telefoniere ich rund eine Dreiviertelstunde mit Mom, die neben Dad auf dem Beifahrersitz hockt. Dann, endlich, kommen sie an und Daddy parkiert seinen Wagen direkt vor mir.

„Oh mein Gott", stösst Mom entsetzt aus, als sie mich im Fahrersitz erblickt. „Sinia!"

Meine immer noch blutigen Finger strecken sich wie automatisch nach ihr aus und ich fange wie auf Knopfdruck zu schluchzen an. Der Anblick meiner Eltern macht das alles so real, so furchtbar real, dass ich mich nicht mehr beherrschen kann.

„Das tut mir so leid", flüstert Mom in mein Ohr, als sie mich fest in ihre Arme zieht. Ich weine an ihrem Hals, spüre Daddys tröstende Hand auf meinem Hinterkopf.

„Wo sind denn deine Freunde, Kleine?", will Daddy wissen, während Mom nur unnötige Sachen brabbelt, die mich aber irgendwie trotzdem beruhigen. Langsam, ganz langsam, gelingt es mir, wieder regelmässig zu atmen.

„Im Spital", presse ich heraus.

„Bleibst du hier, Aiva?", bittet Daddy Mom. „Ich erkundige mich drin nach dem Stand der Dinge."

Mit meinen Eltern an meiner Seite scheint die Situation schon viel eher bewältigbar. Daddy bleibt nicht lange im Spital.

„Hast du nach Susi gefragt?", will ich mit klopfendem Herzen wissen.

„Sie konnten mir nicht viel sagen, weil ich nicht Familie bin. Aber deine...", er stockt kurz, sichtlich unsicher darüber, wie er sich ausdrücken soll, „Freunde diskutieren gerade mit den Ärzten."

Er wirft Mom einen vielsagenden Blick zu und ich weiss augenblicklich, dass er meine ‚Freunde' nicht gutheisst. Aber das ist mir egal.

„Können wir die Jungs mit nach Hause nehmen?", frage ich trotzdem emotionslos, um nicht wieder loszuheulen.

„Natürlich, Kleines", nickt Mom und drückt ein Küsschen an meine Stirn.

„Ich hole sie", erwidere ich nur, löse mich wiederwillig von meiner Mutter und stackse auf unsicheren Beinen zum Eingang des Krankenhauses. Als ich durch die Glastür eintrete, empfängt mich der unfreundliche Duft von Desinfektionsmittel und eine beklommene Stille. Sofort rutscht mir das Herz in die Hose.

An der Empfangstheke wartet eine ältere Dame mit Hornbrille, deren Augen sich bei meinem Anblick weiten.

„Du meine Güte, was ist dir denn passiert?", fragt sie und steht auf. Verwirrt blicke ich an mir runter und erspähe das getrocknete Blut an meinem Oberteil, auf meinen Schuhen, an meinen Händen.

„Nein, mir geht es gut", stammle ich erklärend. „Das ist nicht meins."

Ich schlucke leer und schaue mich nach Alan um. In meinem Hals hat sich vor langem ein Kloss gebildet, der nicht weichen will. Mein Herz brennt beim Gedanken an Alan, der gerade um das Leben seines besten Freundes hofft.

Diese Hoffnung, diese Verzweiflung, sie macht meine eigenen Probleme so nichtig, so irrelevant. Was heisst es schon, verletzt zu werden, enttäuscht zu sein, Trauer zu verspüren, wenn Andere verzweifelt am Leben festzuhalten versuchen? Wie könnte ich meinen Schmerz jemals mit seinem vergleichen? Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie sich Alan gerade fühlen muss.

Der wichtigste Mensch in meinem Leben – ja, denn, so wird mir bewusst, das ist er tatsächlich geworden – ist gerade völlig verloren und ich will nichts mehr, als zu ihm zu gelangen. Ihn in meinen Armen zu wiegen. Ihm ins Ohr zu flüstern, dass ich ihn halten werde. Solange wie nötig. Vielleicht für immer.

„Sind sie sicher, dass sie nichts brauchen?", reisst mich die Empfangsdame aus meinen Gedanken. Ich schüttle den Kopf.

„Können Sie mir sagen, wo Susi Frost untersucht wird? Er wurde gerade notfallmässig hierher gebracht"

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt