Neununddreissigstes Kapitel

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Obwohl Mom und Riina mir am Abend gut zugeredet und Mut gemacht haben, wache ich am nächsten Morgen verspannt und entkräftet aus einem viel zu kurzen Schlaf auf. Ich kann mich nicht erinnern, überhaupt eingeschlafen zu sein, so lange habe ich mich im Bett gewälzt und immer und immer wieder das Geschehene hinterfragt.

Ich weiss, dass ein gefühlloser Quicky für viele keine grosse Sache ist, aber für mich? Skye müsste das besser wissen, als jeder andere. Und ist es für Alan so völlig banal, dass er mit meiner besten Freundin geschlafen hat, dass er es wirklich nicht für nötig gehalten hat, mir davon zu erzählen? Wenn das der Fall ist, wie soll ich dann jemals wissen, mit wie vielen Frauen er in der Zwischenzeit Sex gehabt hat?

Obwohl ich eigentlich nur schlafen will, ist meine Müdigkeit sofort verflogen. Der Gedanke an die beiden macht die Ruhe in mir sofort zunichte. Stöhnen strecke ich mich nach meinem Handy auf dem Boden. Es zeigt mehrere Nachrichten an, doch mich interessiert nur eine. Ich vergrabe mich unter meiner Decke und öffne sie.

@Skye: es tut mir leid sin ich hätte dir echt davon erzählen sollen... ich habe mich einfach nie getraut weil ich angst hatte dich zu verletzen. aber es hat wirklich nichts bedeutet und alan und ich haben dich nie angelogen, oder? das ist alles wirklich doof gelaufen und es tut mir wirklich richtig doll leid

Frustriert und ungläubig schliesse ich die Nachricht ohne zu antworten. Ich seufze und öffne sie doch noch einmal, und tippe mit zittrigen Fingern:

heisst das, ihr habt euch abgesprochen, oder was?

Als ich wenig später aufstehe und mich für die Uni zurecht mache, fällt mir jede Bewegung dreifach schwer. Mir ist egal, wie ich aussehe, ob Mom die Jogginghose missfallen wird oder ob meine Augen immer noch rot sind. Eigentlich will ich nur etwas in der Welt, und das wird sich nie erfüllen. Ich will in der Zeit zurückreisen und das alles nie erleben.

Der ganze Tag verstreicht wie im Schneckentempo und doch nehme ich nichts wirklich wahr. Immer wieder schweifen meine Gedanken ab und drehen sich im Kreis. Ich entscheide mich immer neu, ob ich verärgert, verletzt oder verständnisvoll sein soll. Als ich am Nachmittag in einer Pause mit Riina telefoniere, teilt sie meine Verwirrung. Wir beide verstehen nicht, wie man sich überhaupt so verhalten kann. Oder wie man in solch eine Situation geraten kann.

„Manche Menschen haben einfach ganz andere Prinzipien", meint Riinas Stimme schlussendlich. „Ich bin mir sicher, dass es für Skye auch keine grosse Sache wäre, wenn du das gleiche tätest."

„Wirklich? Aber wie kann jemandem sowas egal sein?"

„Naja, strikt gesagt wart ihr ja noch nicht zusammen, Alan und du, als es passiert ist."

„Aber das rechtfertigt doch nicht...", unterbreche ich sie empört.

„Warte, warte, ich bin noch nicht fertig. So wie ich Skye verstehe, hätte sie die Hände von Alan gelassen, wenn sie über deine Gefühle für ihn Bescheid gewusst hätte."

„Aber das hat sie."

„Das denkst du, Sin", erklärt Riina und ich kann ihre mitleidige Miene fast durchs Telefon hören. „Vielleicht warst du nie deutlich genug. Bei manchen Menschen kommt die Erkenntnis erst, wenn du sie ihnen quasi an die Stirn klatschst. Und vielleicht hat sie sich auch einfach eingeredet, dass du deine Gefühle nie so genau definiert hast, als sie das mit Alan tat."

„Das ist so eine schlechte Entschuldigung", klage ich verständnislos und lege meine Tasche neben einer Bank im Innenhof der Uni ab. Dann setze ich mich darauf und grabe meine Thermotasse hervor. „Sollte eine Freundin einem nicht zuhören?"

„Also wenn ich ehrlich bin hat dir Skye schon öfter mal nicht richtig zugehört, wenn du mich fragst", antwortet Riina vorsichtig.

„Was meinst du?"

„Naja, du hast mir schon mehrmals von Situationen erzählt, bei dem das so war."

„Wirklich? Daran kann ich mich nicht erinnern."

„Weil du zu gutgläubig bist."

Nachdem ich versuche, irgendwelche Entschuldigungen zu finden und Skye zu verteidigen, ermahnt mich meine beste Freundin: „Siehst du, du tust es schon wieder."

„Ach Riina, ich will einfach nicht glauben, dass man sich in einem Menschen so täuschen kann."

„Dann rede noch einmal mit ihr. Vielleicht nicht heute und morgen, aber sobald du dich bereit fühlst."

„Riina, du bist die Einzige, der ich wirklich vertrauen kann", sage ich leise und schaue auf den abgeblätterten weissen Nagellack auf meiner linken Hand.

„Gib nicht dein Vertrauen in alle deine Freunde auf, nur weil eine es ausgenutzt hat", rät Riina nach einer kurzen Pause. „Und wenn du mich brauchst, bin ich immer für dich da, das wisst du."

„Danke."

Ich weiss es. Aber in dem Moment ist die einzige Person, die für mich hätte da sein müssen, Skye. Nachdem wir aufgelegt haben, verstaue ich mein Handy in meine Tasche und gucke es den Rest des Nachmittags nicht mehr an. Als ich endlich im Bus nach Hause sitze, fühle ich mich wie gerädert. Eigentlich hätte ich gar nicht an die Uni gehen sollen, mitgekriegt habe ich sowieso nichts von den Kursen.

Der Bus ist so vollgestopft, dass ich keinen Sitzplatz finden kann. Umständlich krame ich in meinem Beutel nach meinem Handy und meinen Kopfhörern, die wie immer ein einziges Kabelgewirr sind. Als ich es endlich in der Hand halte, leuchten vier Nachrichten auf, davon eine von Skye. Und eine von Alan. Ich öffne erst die von Skye.

@Skye: was meinst du haben wir abgesprochen? lass uns doch einfach treffen dann können wir über alles in ruhe reden

Dieses Mal tippe ich wirklich keine Antwort, habe noch immer Riinas Worte im Ohr. Stattdessen öffne ich die Nachricht von Alan.

@Alan: Sky hat mir geschrieben.. können wir uns treffen?

Obwohl ich es mir hätte denken können und es nichts zur Situation tut, rege ich mich schon wieder auf. Dass sich Skye bei Alan meldet, wenn wir eine Auseinandersetzung haben, stört mich irgendwie. Es macht so stark den Eindruck, dass sie Verbündete sind, dass ich mein Handy sofort zurück in die Tasche schmeisse. Wieder fängt jede Faser meines Körpers zu schmerzen an.

Endlich zuhause verziehe ich mich sofort appetitlos und sehnsüchtig nach Einsamkeit in mein Zimmer. Meine Eltern sind zum Glück noch nicht zuhause, weshalb ich mich im Badezimmer verbarrikadiere, ein Schaumbad einlasse und einen meiner Lieblingsfilme anschalte: „A Walk to Remember".

Als der Schaum über meinem Körper langsam vergeht und ich den beiden Figuren bei ihrem zarten Kennenlernen zuschaue, gehören meine Gedanken endlich nicht mehr nur Skye. Noch kläglicher als üblich weine ich, als Jamie Landon ihr Geheimnis erzählt. Ich weine für sie, aber ich weine auch für mich.

Gerade noch habe ich geglaubt, einen Landon gefunden zu haben. Den einzigen Landon für mich, den einzigen Menschen, der mich für das sieht, was ich bin, und nicht das, was er in mir sehen will. Ich bin mir so sicher gewesen, den absoluten Glücksgriff gemacht zu haben, den Diamanten, den verruchten Badboy, den Engel aus der Menge gezogen zu haben. Und doch – am Ende stellt sich heraus, dass es im echten Leben eben doch keine Landons gibt. Dass Jamies grösstes Glück und schlimmstes Unglück genauso nahe beieinander liegen, wie die Wahrheit und ein Schweigen. Keine Lüge, aber ein Schweigen. Denn dieses ist genug, um die Wahrheit verborgen zu halten.

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt