Wenn es ein einziges Gefühl gäbe, welches ich wählen und dann den Rest meines Lebens lang fühlen müsste, dann wäre es die kühle Luft auf meiner erhitzten Haut, die mich den Gang hinaus aus meinem Lieblingsort begleitet. Wenn die Frische über meine Nase streicht und sich langsam über meinen ganzen Körper legt, dann weiss ich, dass ich lebe. Dass ich glücklich und frei bin und dass die Liebe existiert. Denn gerade eben habe ich sie in ihrer pursten Form erlebt. Ich habe geliebt – mit meinem ganzen Körper.
Wenn ich also nun gefolgt einiger der Mädchen aus dem Studio trete, dann fühle ich nichts als Frieden. Für einen winzigen Moment scheint die Welt ihr Tempo gemässigt zu haben. Alles wird langsamer. Die Musik, die noch immer aus dem Studio dringt, verstummt. Die Müdigkeit in meinen Beinen verschwindet. Für diesen winzigen Moment bin ich in einem Traum.
Aber ich träume nicht. Ich lebe.
„Tschüss, Annie", rufen mich Stimmen zurück in meinen Körper.
„Nudeln?", fragt eines der Mädchen hinter mir, „Ich sterbe vor Hunger."
„Und ich erst", antwortet eine Zweite. „Bin dabei."
„Was ist mit dir, Sin? Kommst du?"
Meine zwei Freundinnen schauen mich mit grossen Augen an. Na gut, ich habe wohl bisher auch kaum einmal eine Schüssel Asiatischer Nudeln ausgeschlagen.
„Schaut mich nicht so an!", erkläre ich. „Wenn ihr wüsstet wie viel Arbeit zu Hause auf mich wartet. Es ist als hätten sich alle meine Dozenten abgesprochen, jegliche Hausarbeiten für diese Woche aufzusparen..."
„Komm schon, kannst du das nicht nachher erledigen?"
„Nein... wirklich nicht", antworte ich und zucke mit den Schultern. Je länger ich sie auf mich einreden lasse, desto wahrscheinlicher wird es, dass ich sie am Ende doch begleite. Dies ist nun wohl meine Strafe dafür, dass ich die Arbeiten schon seit Wochen aufgeschoben habe. Heute keine Asiatischen Nudeln.
„Nächstes Mal, ok?"
„Komm", betteln die beiden.
„Nein, ernsthaft", lache ich während ich langsam rückwärts von ihnen weg schreite. „Es tut mir leid, nächstes Mal bestimmt. Bon Appetit."
Ich sende ihnen einige Kusshände zu bevor ich mich definitiv umdrehe.
„Du wirst etwas verpassen!", höre ich sie hinter mir schreien und lache.
Noch bevor ich überhaupt darüber nachdenken kann etwas zu erwidern landet ein dicker Regentropf auf meiner Stirn. Seufzend ziehe ich meine Mütze tiefer ins Gesicht und überdecke die untere Hälfte meines Gesichts mit einem riesigen Schal. Da ich weder einen Regenschirm mitgenommen habe noch einen Hoodie trage, bleibt mir nichts Anderes übrig als so weiterzugehen. Binnen Minuten strömt es.
Ich beschleunige mein Tempo, jedoch nicht genug. Meine Busstation ist nur wenige Strassen entfernt, doch das Menschengedränge auf dem Bürgersteig verlangsamt mich. Pausenlos muss ich darauf acht geben, nicht in einen der eilenden Passanten zu laufen. Regentropfen perlen von ihren Schirmen ab und klatschen in mein Gesicht, wo sie zur Nässe noch beitragen. Mittlerweile sind meine Stiefel nass und die Jogginghose durchweicht. Selbst im Winter trage ich keine wasserfeste Kleidung – einmal abgesehen von meiner schwarzen Jacke.
Weder mein Kleiderschrank noch meine Faulheit helfen da gross. Im Gegenteil zu den meisten anderen Briten bin ich niemals vorbereitet auf Regen. Da ich nicht erwartet habe, heute jemanden spannendes zu treffen, habe ich mir das übergezogen, was ich als Erstes habe finden können. Was sich wieder einmal als die falsche Entscheidung erweist.
Endlich erreiche ich die Bushaltestelle wo ich mich neben einen älteren Mann setze. Er bemerkt mich nicht einmal und starrt vor sich auf den Boden.
Die metallene Sitzbank ist so kühl, dass ein kalter Schauer meinen Rücken hochklettert. Die nasse Hose und kalten Füsse helfen kaum, mich nun warm zu halten. Noch vor wenigen Minuten war ich verschwitzt und glühte. Und nun wünsche ich, dass ich das Studio gar nicht erst verlassen hätte. Wenn Zuhause nicht zwanzig Seiten irgendeiner langweiligen Theorie auf mich warten würden, wäre ich wohl zurück an meinen Lieblingsort gelaufen.
Es ist gar nicht so kalt, male ich mir ein. Wenn du erst einmal deine blöde Arbeit fertig hast wirst du froh sein, dass du sie nicht länger aufgeschoben hast.
Doch wem mache ich eigentlich was vor? Es ist verdammt kalt und meine Hände frieren selbst in den Jackentaschen. Immerhin bietet das Bushäuschen Schutz vor dem strömenden Regen. Schnell krame ich mein iPhone aus der einen Tasche und schaute auf die Uhr. 20:39 Uhr. Noch sechs Minuten bevor die Wärme des Buses mich nach Hause bringt. Mit klammen Fingern entwirre ich das Chaos, welches die Kabel meiner Kopfhörer in der Jackentasche verursacht haben. Dann stecke ich sie mir in die Ohren und richte die Mütze zurecht. Bevor ich die Musik allerdings anschalten kann, zuckt der Mann neben mir zusammen.
Erschrocken schaue ich zu ihm hinüber. Doch noch immer sitzt er starr da und schaut zu Boden. Ich runzle die Stirn und richte meinen Blick wieder auf das Display, behalte den Mann allerdings aus dem Augenwinkel im Sichtfeld.
Sei nicht paranoid, schelte ich mich im nächsten Augenblick selbst. Bestimmt habe ich mir das gerade eben eingebildet. Vielleicht auch nicht. Der ältere Mann scheint in Ordnung, also entscheide ich mich schliesslich doch noch für meine Musik. Ich drücke auf mein Lieblingslied. Gleich darauf habe ich meinen Sitznachbarn vergessen und lausche den sanften Klängen von Imogen Heap.
Meine Gedanken wandern jedoch fast augenblicklich zu der mich erwartenden Arbeit in meinem Zimmer. Ich presse die Lippen zusammen und verdrehe die Augen. Wenigstens die letzten zwanzig Minuten bevor ich damit anzufangen habe, will ich nicht an Englische Literatur denken müssen.
Also mache ich die Musik in meinen Ohren lauter, um jegliche Gedanken daran zu verdrängen. In dem träumerischen Lied versunken lasse ich meinen Blick über die andere Seite der Strasse gleiten. Über das kahle Bushäuschen, die Strassenlaterne daneben. Über die Gestalt, die sich dagegen lehnt. Und mein Blick geht nicht weiter. Er bleibt hängen.
Das Licht der Laterne beleuchtet die Bushaltestelle in einem kahlen Licht. Doch die Regentropen, die noch immer erbarmungslos vom Himmel fallen, reflektieren jeden Lichtstrahl, so dass tausende Sterne zwischen uns zu schweben scheinen. Sie verwehren mir die Sicht auf den Fremden zwar zu grossem Teil, doch bringen sie so eine aufregende Atmosphäre mit sich, dass ich die Kälte in meinen Beinen vergesse. So, dass selbst Imogen Heap meine Gedanken nicht mehr verdrängen kann. Denn mein Kopf schreit nun.
Die Gestalt, ein junger Mann, steckt in einem weinroten Parka, welcher sein Gesicht verdeckt. Vielleicht gerade deswegen strahlt er so viel Sicherheit und ein eisernes Selbstbewusstsein aus, dass es förmlich greifbar scheint. Mein ganzer Körper wird von der Faszination des mysteriösen Fremden übernommen. Ich kann nicht anders, als den Fremden anzustarren, der unverändert lässig an die Laterne angelehnt dasteht. Länger und länger. Doch er hebt seinen Kopf nicht. Es ist mir egal. Die reine Existenz des Fremden genügt, um meine volle Aufmerksamkeit zu bekommen. Er hat etwas in mir berührt, etwas Aufregendes, etwas Unbekanntes.
Und endlich – endlich – hebt er seinen Kopf. Genau in diesem Moment fährt der Bus vor meine Nase. Perplex und zutiefst enttäuscht versuche ich, durch den Bus hindurch zu starren, gebe nicht nach, bis er schliesslich angehalten hat. Doch die Wände bleiben. Ich kann mir das plötzliche Gefühl der Einsamkeit nicht erklären, und dennoch spüre ich es in jeder Faser meines Körpers. Plötzlich bin ich wieder alleine. Weg der Fremde, weg die tausend Sterne.
Nachdem der ältere Herr in den Bus getreten ist, zeige ich meinen Fahrausweis und rausche so schnell es nur geht an einen Fensterplatz. Zum Glück ist der Bus zu dieser Zeit kaum besetzt. Noch ehe ich richtig sitze fährt er ab. Und damit wird mir ein letzter Blick auf meinen aufregenden Fremden verwehrt. Unzufrieden sinke ich in den abgesessenen Sitz. Noch immer habe ich das Bild der Gestalt vor meinen Augen. Meine Finger kribbeln beim Gedanken an ihn. Und eines weiss ich nun mit absoluter Sicherheit: Die Englische Literatur würde auf Morgen warten müssen.
DU LIEST GERADE
Lila Lichter
Lãng mạn"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...