Fünfundvierzigstes Kapitel

4 0 0
                                    

Ich höre den Aufprall nicht. Aber ich spüre ihn. Die ganze Erde scheint zu beben, vor Schreck zu erzittern. Selbst die Luft vibriert.

Schreie aus dem Himmel. Ein geller Schrei aus meinem eigenen Mund. Alles dreht sich um mich herum, meine Beine fühlen sich an wie Gummi.

Mit leerem Kopf, ganz automatisch und völlig überfordert renne ich los. Ich will das nicht sehen. Ich will Susi nie erreichen, will ihn nicht als erste finden. Aber das ist egal. Zittrig renne ich über den Rest der Wiese, begleitet von lauten Rufen von oben, die ich nicht verstehe.

Und dann entdecke ich ihn. Ich weiss nicht mehr, wer er ist, erkenne Susi kaum mehr. Mein Magen droht sich zu drehen als ich ihn erreiche und mit tränenerstickter Stimme seinen Namen rufe.

Er ist auf dem Rücken gelandet, sein Gesicht beinahe unversehrt. Es ist eindeutig er. Das ist kein Albtraum, kein Horrorfilm. Das ist Susi, der die schlechtesten Mac'n'Cheese der Welt kocht. Aber ausser seinem Gesicht ist kaum etwas ganz geblieben.

Ich würge aber erlaube mir nicht, mich zu übergeben. Mein Gott.

Während ich immer noch seinen Namen rufe, dann flüstere, dann keuche, beuge ich mich zu Susi hinunter, lasse mich neben ihm auf die Knie fallen. Ich lege meine Hände über ihn, traue mich aber nicht, ihn zu berühren.

Seine Augen sind geschlossen, aber ich weiss nicht, ob er noch lebt, ob er bei Bewusstsein ist oder nicht.

„Lebt er?", drängt sich endlich eine Stimme an mein Ohr. Sie gehört Alan. Sie ist heiser. Eiseskälte übernimmt mich. Aber ich zwinge mich trotz aller Angst, wider des Grauens nach Susis Puls zu suchen. Da keine seiner Hände heil aussieht, presse ich zwei Finger an seinen Hals und suche irgendwo nach einem Puls. Wo genau sollte die Stelle noch einmal sein?

So gut es geht konzentriere ich mich auf meine Finger und finde nach einer Ewigkeit ein schwaches Pochen.

„Ja", stosse ich so laut ich kann aus. „Kommt da runter, bitte", weine ich nun völlig aufgelöst. Wann sich die Tränen aus meinen Augen gebohrt haben, weiss ich nicht.

Susi lebt. Was nun? In den Filmen wissen immer alle ganz genau, wie sie erste Hilfe leisten müssen. Aber ich? Ich habe keine Ahnung davon. Ausser, dass ich Susi keinesfalls bewegen darf, um ihm nicht noch mehr Verletzungen zuzufügen. Der Notarzt. Ich brauche mein Handy.

Mit inzwischen blutbeschmierten Händen taste ich meine Hosentaschen nach meinem Handy ab, finde es aber nicht.

„Ich bin gleich zurück", presse ich hervor und rapple mich umständlich auf. „Ich bin gleich zurück Susi, warte auf mich, okay? Gib nicht auf, ich komm' gleich wieder." Dann sprinte ich los, bin in null Komma nichts bei der Decke, greife dort zu meinem Handy und wähle die Notfallnummer.

Während ich zurück zu Susi renne gebe ich der Frau am Telefon atemlos so gute Angaben, wie es mir in dem Moment möglich ist.

„Blutet er?", will sie sachlich wissen. Ich knie mich wieder zu Susi.

„Natürlich blutet er", stosse ich ungeduldig aus. „Was glauben sie denn? Er ist gerade dreissig Meter vom Himmel gefallen."

„Bitte bleiben Sie ruhig", beschwichtigt mich die Frau, was überhaupt nicht hilft. „Für den Fall, dass Ihr Freund bei Bewusstsein ist, ist es wichtig, dass sie ruhig bleiben. Können Sie mir sagen ob er Kopf- oder Rückenverletzungen hat? Der Krankenwagen ist nun unterwegs. Wenn sie mir die Verletzungen so genau wie möglich schildern könnten, kann ich ihnen bei der ersten Hilfe helfen."

Der Blick auf Susis gebrochene Knochen und die blutigen Stellen drehen mir nun entgültig den Magen um, sodass ich mich ins Gras übergebe. Gleichgültig streiche ich mir meinen Mund mit einer Hand ab und presse das Handy wieder ans Ohr.

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt