„Und damit schliesse ich unsere erste Sitzung, vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit."
Sobald der Professor die Worte ausgesprochen hat, fängt die Hälfte der Studenten auf den Tisch zu klopfen an. Der Rest packt hastig alle Sachen zusammen und stürzt aus dem Vorlesungssaal in die Freiheit.
Es ist der siebte Januar, das neue Semester hat vor zwei Stunden angefangen. Meine erste Vorlesung über Englische Literatur im achtzehnten Jahrhundert ist soweit ganz spannend. Das ist zwar erst mein zweites Semester im Literaturstudium, aber ich habe bereits gelernt, dass man einige Professoren meiden sollte, und andere unbedingt wiederwählt. Der ziemlich junge Professor, der vorne gerade seinen Laptop verstaut, weiss, wie man die Aufmerksamkeit der jungen Studenten behält. Das mag ich.
Auch ich verstaue meinen Schreibblock und meine Stifte im Rucksack und wickle meinen Schal um den Hals. Dann drücke ich mich den Anderen nach aus den Sitzreihen und aus dem Saal. Im Korridor verflüchtigt sich die Menge an Studenten sofort. Ganz alleine bleibe ich stehen und suche auf meinem Handy nach meinem Stundenplan.
„Kann ich kurz", unterbricht mich eine zierliche Studentin, die sich zwischen mir und der Wand durchdrücken will – aus welchem Grund auch immer.
„Sorry", erwidere ich nur und mache einen Schritt zur Seite. Dann finde ich endlich das Foto meines Stundenplans. Gebäude C, Raum 03. Ich muss also das Gebäude wechseln.
Nachdem ich mir in der Cafeteria einen Kaffee geholt habe, trete ich hinaus in die winterliche Kälte. Mit hastigem Schritt überquere ich den Platz und stapfe an einigen rauchenden Studenten vorbei.
Vollbepackt mit Kaffee und einem Buch schiebe ich die Tür ins Gebäude mit der Schulter auf. Obwohl die meisten Studenten in kleinen Gruppen herumirren – sogar die Erstsemestler – bin ich ganz alleine unterwegs. Zum Glück treffe ich mich am Mittag mit Miles, der zwar in einem ganz anderen Gebäude studiert, unsere Cafeteria aber lieber mag als seine. Ich gebe mein Bestes, mich bis dahin nicht einsam zu fühlen.
Mir kommt wieder To All The Boys I've Loved Before in den Sinn. Wie die Korridore im Film immer voll Schüler sind und jeder mit seiner Gruppe abhängt. Sogar Lara Jean hat ihre beste Freundin oder Peter anscheinend durchgehend an ihrer Seite.
Ich nehme einen Schluck brühend heissen Kaffee. Die Vorstellung, dass man auf der High School oder in der Uni immer seine Freunde dabei hat, ist einfach unreal. Bereits in der High School hatte ich nie meine Gang, die sich mit anderen Freundeskreisen verfeindet hat. Ich weiss nicht, ob ich das positiv oder negativ finden soll.
Zu meiner rechten liegt Raum 03. Ich trete in den abgedunkelten und noch ziemlich leeren Raum und sitze in eine der hintersten Reihen. Wie immer.
Mein Handy vibriert in meiner Hosentasche. Ich stelle meine Sachen ab und fische dann mein iPhone raus.
Alan: Gebäude C also
Mein Herz macht sofort einen dämlichen Sprung. Einen Moment lang starre ich die Nachricht einfach nur an. Dann tippe ich aufgeregt eine Antwort.
stalkst du mich etwa? :p
Nur Sekunden später folgen zwei weitere Nachrichten:
Alan: Nicht ganz
Alan: Du bist gerade an mir vorbeigekommen
Ich schaue von meinem Handy auf und schaue mich prüfend im Raum um. Aber Alan ist nicht hier.
Wo bist du?
Alan: draussen, raucherpause
Ich grinse. Es ist nicht so, als würde ich nicht sowieso die ganze Zeit und überall nach Alan Ausschau halten. Aber die Kälte hat mich so schnell ins nächste Gebäude hasten lassen, dass ich die Raucher nicht wirklich beachtet habe.
Alan: das nächste mal will ich auch einen kaffee
Erneut grinse ich. Dann tippe ich schnell zurück:
Zucker und Milch?
Alan: schwarz, danke :)
Alan: hast du nachher mal eine freistunde?
Während sich der Raum langsam mit dick verpackten Studenten füllt, habe ich nur Augen für mein Handy und rase mit meinen Fingern über das Display. Der Geruch von Kaffee steigt mir in die Nase und Geplapper von meinen Sitznachbaren drängt an mein Ohr. Aber meine Aufmerksamkeit bleibt auf meinem Handy.
Habe ich nachher eine Freistunde? Eigentlich nicht. Die einzige Stunde, die ich frei habe, ist bereits mit Miles verplant. Soll ich Miles absagen?
Nein, beschliesse ich. Ich darf gar nicht erst anfangen, für Alan meine Freunde zu vernachlässigen. Das wäre wohl das grösste Cliché meiner Generation.
Nicht bis 18 Uhr... Aber ich bring dir nächstes Mal einen Kaffee mit :)
Sofort erscheinen die blauen Häckchen, die bestätigen, dass Alan meine Nachricht gelesen hat. Aber ich warte vergeblich auf eine Antwort. Etwas enttäuscht lege ich mein iPhone schliesslich zur Seite und lege meine Schreibutensilien auf den viel zu schmalen Tisch vor mir. Nur wenige Sekunden später begrüsst uns eine dünne Professorin mit dickem irischen Akzent.
Nach einer eineinhalbstündigen Einführung in James Joyces Ulysses schliesst sie ihre Lektion mit einem strengen Nicken. Noch mit Stift in der Hand greife ich nach meinem Handy und drehe es aufgeregt um.
Alan: finde ich gut. aber wir werden uns schon vorher wiedersehen ;)

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Lila Lichter
Romance"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...