Nach einer Woche kehre ich zurück an die Uni. Jedenfalls besuche ich die Seminare mit Anwesenheitspflicht. Meine Freunde meide ich, tische ihnen irgendwelche lahmen Ausreden auf, wieso ich sie nicht sehen kann. Dylan habe ich meine Sorgen bereits am Samstag des Unfalls anvertraut, also werden sie alle wissen, was los ist. Trotzdem kann ich mich nicht dazu überwinden, irgendwem ausser Alan und meinen Eltern gegenüber zu treten.
Es fühlt sich an als hätte jemand etwas aus mir herausgerissen. Etwas Warmes, Weiches, etwas nach dem ich verzweifelt suche. Ich will mich vor den Leuten nicht verstellen müssen, mich nicht zeigen, als wäre alles in Ordnung, wenn es das nicht ist. Während ich Dylans und Zachs Nachrichten wortkarg beantworte und Miles Fragen im Tanzstudio nicht ganz entgehen kann, ignoriere ich Skyes Nachfragen.
Keine Ahnung wieso, aber irgendwie stören sie mich. Als würde es sie nichts angehen. Als ob ich sie nicht an mich heranlassen will. Noch nicht wieder. Das ist bestimmt ungerecht, aber damit kann und will ich mich momentan nicht beschäftigen.
Ich will einfach, dass alles wieder wird wie noch vor zwei Monaten. Aber das wird es nicht. Susis Leben hängt noch immer am seidenen Faden und Alans Welt ist zerstört. Und ich brauche Zeit, das zu verarbeiten.
Alan droht zu zerbrechen. Und ich selbst bin nicht viel weiter davon entfernt. Ich liebe ihn so sehr, dass sein Riss meinen eigenen nur noch vergrössert. Ich will ihm so gerne helfen, aber nichts scheint zu funktionieren. Ich bin jeden Tag bei ihm und dennoch verbessert sich nichts.
Am Montag zwei Wochen nach dem Unfall kehre ich völlig fertig von der Uni direkt zu Alan heim. Den Schlüssel, den ich mir kurzerhand geschnappt habe, um ohne zu klingeln ins Gebäude zu kommen, ist schon rostig. Mit etwas Mühe stecke ich ihn ins Schloss und schliesse auf. Das kalte Licht im Treppenhaus ist ein enormer Kontrast zum lila-orangen Abendrot draussen. Es kommt mir vor, als würde ich in eine andere Welt treten. Und das tue ich wahrscheinlich. Da draussen, da ist alles in Ordnung. Doch hier drin? Da ist nichts okay.
Keuchend vom Aufstieg öffne ich Alans Wohnungstür und trete in abgestandene Luft. Wortlos streife ich meine Schuhe ab und hänge meine Jeansjacke an einen bereits verwendeten Kleiderhacken. Von der Küche drängen die Stimmen der Jungs an mein Ohr. Während ich meine Tasche ins Wohnzimmer lege, erklingt plötzlich Gelächter. Was ist denn hier los?
Weil ich im stickigen Raum kaum atmen kann, öffne ich eines der grossen Fenster und verdrücke mich daraufhin kurz ins Bad. Binde meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen während ich auf dem Klo sitze und prüfe danach aus Neugier, ob die D-Schublade abgeschlossen ist. Ist sie. Ein Blick in den Spiegel offenbart, wie fertig ich wirklich bin. Dunkle Augenringe schmücken meine Augen und meine Haut sieht fahl aus.
Ich sehe regelrecht energielos aus, kein Wunder waren die letzten Wochen Tanztraining katastrophal. Um die bösen Gedanken zu verdrängen verlasse ich schnell das kleine Badezimmer. Solange die Jungs noch in der Küche verharren, schlüpfe ich schnell in eine dunkle Jogginghose und streife einen warmen Kapuzenpulli über.
Das Lachen ist inzwischen verhallt, aber noch immer diskutieren die Jungs erfreulich viel. Erholen sie sich langsam vom gemeinsamen Trauma? Oder probieren sie einfach einen neuen Stimmungsmacher aus?
Eine gute Miene aufsetzend trete ich rüber in die Küche, wo die Jungs überall verteilt sitzen und Bier aus Glasflaschen trinken.
„Sin!", begrüsst mich Stanley ungewohnt heiter und Freddy öffnet mir sofort eine Flasche Bier. Ich nehme sie wortlos entgegen und werde von Alan auf seinen Schoss gezogen.
„Hello Love", raunt er und drückt seine Nase an meinen Rücken.
„Hey", grüsse ich niemanden bestimmtes und alle gleichzeitig. Alans Arme sind so eng um meinen Bauch geschlungen, dass sie sich heben und senken, als ich einen kleinen Schluck Bier nehme.
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Lila Lichter
Romansa"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...