Natürlich hat der Tag mit Dylan mein Problem nicht in Luft aufgelöst. Auch noch am Ende der Woche kann ich nicht damit umgehen, dass ich womöglich in einen Junkie verliebt bin. Eigentlich bin ich mir vollkommen bewusst, dass die meisten Menschen in meinem Alter schon die eine oder andere Droge ausprobiert haben, aber ich habe mich immer ganz bewusst davon ferngehalten. Viel zu gross ist meine Angst einer schlechten Erfahrung, aus der ich dann nicht mehr rauskomme. Einem falschen Trip.
Mein Problem mit Alans Drogenkonsum beruht nicht einmal unbedingt darin, dass er seine Realität mit Rauschmitteln beeinflusst. Wobei die Aussicht, ihn nur halbzeitig als sich selbst bei mir zu haben, mich nicht gerade erpicht. Aber mein Problem besteht vor allem darin, dass er dabei konstant in Lebensgefahr schwebt. Mir wird bewusst, dass Alans Klettern, die Drogen, die ständig offene Wohnungstür, seine vielfache Gleichgültigkeit, dass das alles zusammenhängt. Er braucht Adrenalin, liebt es wahrscheinlich, in Lebensgefahr zu schweben. Vielleicht auch, um sich selbst zu beweisen, dass er es immer wieder überlebt. Er spielt mit seinem Körper und seinen Sinnen und das verängstigt mich extrem. Gleichzeitig fesselt mich die Angst um und Sehnsucht nach ihm an sein Wesen, ich will da sein, für ihn und mit ihm.
Keine Ahnung, ob er dasselbe über mich denkt, oder ob ich auch zu seinem Spiel des Lebens gehöre. Bin ich eine weitere Droge, eine Abwechslung, die er einfach mal ausprobieren will?
Nach fast einer Woche Funkstille klingelt mein Handy am Sonntagmorgen wie aus dem Nichts, ich arbeite gerade dick eingepackt in der Werkstatt. Obwohl es bereits Mitte Februar ist, ist es draussen noch kein Grad wärmer geworden. Da ich samstags nun immer trainiere, arbeite ich meine Stunden in der Werkstatt meistens am Sonntagmorgen ab.
Ich lege den grauen Kanister auf den Boden und ziehe mein Handy aus der Jackentasche. Auf dem Display blinkt Alans Namen auf, ich starre ihn einfach nur an. Sofort beschleunigt sich mein Puls. Das Klingeln ertönt ewig lange, doch irgendwann gibt Alan auf.
Ich muss mit ihm reden, natürlich muss ich das. Es sind Tage vergangen seit ich von ihm abgehauen bin. Eigentlich bin ich ihm eine Erklärung schuldig, eine Entschuldigung. Alan hat nichts falsch gemacht, er hat mich nie belogen oder ausgenutzt. Trotzdem fällt es mir schwer, mit ihm zu reden. Er hat mir auch nicht direkt die Wahrheit ins Gesicht gesagt. Ausserdem bin ich mir bewusst, dass ich – solange ich keinen Kontakt mehr mit ihm aufnehme – fein raus bin. Brauche mir keine Gedanken mehr darum zu machen. Kann weiterfahren wie vor ihm. Als ob das so einfach wäre.
Langsam gleite ich einer Autotür entlang auf den eiskalten Boden. Immerhin ist sonst niemand in der Werkstatt, sodass ich in Ruhe telefonieren kann. Zitternd vor Aufregung drücke ich die Taste zum Rückruf und halte mein kaltes Handy ans Ohr.
„Hi", nimmt Alan nach nur einem Klingeln sofort ab. Ich bringe keinen Ton heraus. Seine Stimme zu hören, dieses vertraute, tiefe Raunen, bringt mich völlig aus dem Konzept.
„Sin, bist du da?"
„Mhm", murmle ich leise und starre auf den Betonboden vor mir. Es bleibt einen Moment still, dann erfüllt wieder seine schöne Stimme die Leere in meinem Kopf.
„Es tut mir leid, Sin... Das war echt ein beschissener Abend, es tut mir leid, wie das alles abgelaufen ist. Ich kann verstehen, wenn du nicht mehr zurückkommen willst... Wenn du mich nicht mehr sehen willst, meine ich. Ich sollte das nicht verlangen, aber ich möchte trotzdem, dass du zurückkommst."
Wieder bleibt es einen Moment lang still. Dann räuspere ich mich und schniefe unbeholfen.
„Das will ich auch", gebe ich leise zu. „Ich hätte nicht einfach gehen sollen."
„Kann ich dir nicht verübeln."
„Aber ich. Das war nicht fair. Ich... war einfach vor den Kopf gestossen, weißt du. Aber das ist kein Grund, einfach abzuhauen."
„Hast du dir denn inzwischen überlegt, ob du damit klarkommst?"
„Damit, dass du Drogen nimmst?", frage ich ihn ungläubig. „Nein, damit komme ich nicht klar, sicher nicht."
„Ich verstehe."
„Du musst mir erklären wieso, Alan. Ich verstehe das nicht, wieso du das tust. Aber ich will es verstehen."
Er bleibt stumm. Will ich das wirklich verstehen?
„Das kann ich nicht", raunt er leise ins Telefon.
„Wieso denn nicht?", frage ich aufgebracht. „Ich verlange nicht, dass du damit aufhörst. Das ist eine viel zu grosse Bitte, das weiss ich, und es ist deine Sache. Aber ich will wissen, wieso du es tust. Ist das nicht das Mindeste?"
„Ich kann das nicht erklären. Und ich mache das auch nicht täglich oder so, ehrlich."
„Wie oft dann?"
„Weiss ich nicht."
„Du weißt es nicht?" Ich gebe auf. „Okay. Du hast recht. Ich kann das so nicht, Alan. Es tut mir leid. Aber ich kann dir nicht vertrauen, wenn ich überhaupt nichts über dich wissen darf."
Ich atme tief durch. Der nächste Satz bricht mir fast das Herz, kommt nur als ein Wispern aus meinem Mund. „Vielleicht ist es wirklich besser, wenn wir einander nicht mehr sehen."
„Nein, ist es nicht", widerspricht er sofort energisch. „Das weißt du so gut wie ich." Er seufzt. „Triff mich in einer Stunde beim alten Pier, okay?"
Nein. Mein Verstand schreit, dass ich es gut sein lassen soll. Dass ich mich in etwas stürze, von dem ich keine Ahnung habe. Dass das alles viel zu viel Drama, zu viel Ungewissheit, zu viel Schmerz ist. Dass ich mich damit in eine Welt begebe, von der ich keine Ahnung habe. Trotzdem stimme ich zu und lege auf.
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Lila Lichter
Romance"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...