Lila Lichter

Neunundvierzigstes Kapitel

Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken.

Ich hätte es kommen sehen sollen, hätte mich von Anfang an für alles wappnen müssen. Aber nun trifft mich die Erkenntnis wie ein Blitz. Er verwundet mich tief in meinem Innern, brennt alles nieder. Von mir bleibt nur Asche übrig.

All die Zeit mit ihm, die Momente voller Glückseligkeit, voller Geborgenheit, voller Liebe. All die Worte, die ich gebraucht, ja, nach denen ich gelechzt habe. Der synchrone Rhythmus unserer Herzen. Jede sanfte Berührung seiner geliebten Hände, jeder Kuss seiner zärtlichen Lippen. Jeder Blick aus seinen wunderschönen blauen Augen, der mir seinen Stolz, seine Liebe für mich, seine Herzensgüte offenbarte.

Mein Herz zerbricht.

Aus ist es mit der heilen Welt, in die ich mein Herz gepflanzt habe. Tausende Scherben verstreuen sich in jede Faser meines Körpers, in meinen Bauch, meinen Kopf, meine Augen, meine Zehen. Tausende Risse durchziehen meine Körperteile. Risse, die er verursacht hat.

Seine Vergangenheit. Die etlichen Affären mit scheinbar jeder verfügbaren Frau, egal ob mit meinen Freundinnen oder Fremden. Das Gefühl, dass ich nur die nächste in seiner Kette bin, ein weiteres Glied, das ihm schlussendlich scheissegal sein wird. Den Dreck, als den ich mich fühle, nachdem ich mich ihm hingegeben habe, obwohl ich von seinen Geschichten wusste. Jeder neue Schmerz, der aufgetaucht ist, wenn eine weitere Geschichte aus seiner Vergangenheit aufgetaucht ist und meine Welt zum Wanken gebracht hat. So viele Male habe ich mir die Gedanken an seine Fehler verwehrt, um meine Liebe für ihn aufrecht zu erhalten. Zu oft.

Die Gegenwart. Die unzähligen Male, die ich vergeblich auf eine Antwort, eine Umarmung, eine kleine Geste der Wertschätzung warte. Die ganzen Prioritäten, die er immer wieder vor mich stellt, hinter denen ich mich einreihen muss. Die unzähligen Lügen, direkte Messerstiche in mein Herz. Mehr als einmal hat mich Alan ausgenutzt und verraten, und keine Ausrede ist dafür Grund genug. Jede Anstrengung meinerseits, ihn geliebt und unterstützt fühlen zu lassen, obwohl keine davon ankommt. So viel Energie, die ich in seine Zeit, in seine Zukunft, sein Dasein stecke, von der keine erwidert wird. Wie einseitig eine Liebe sein kann.

Die Zukunft. Die Zeit, die es brauchen wird, um ihn weiterhin zu stützen. Die vielen Male, die ich ihn an die erste Stelle stellen werden, ihm verzeihen, ihn auffangen müsste. Die Zukunft, die ich mir wünsche aber mit ihm nie haben werde. Das wird mir schmerzlich bewusst. Egal wie ich es biege, mit welchen Filtern ich es überziehe – ich sehe keine Zukunft mit ihm. Da ist nur Dunkelheit, eine gefährlich reizhafte, dramatische Dunkelheit. Aber ich will sie nicht, nicht mehr.

Ich entscheide mich gegen ihn. Es ist der Klippensprung, den ich endlich wage, der mir alles nimmt und höllisch brennt. Der Aufprall lässt meinen Körper erzittern und dennoch fängt mich der harte Boden liebkosend auf. Der vermeintliche Abgrund erscheint nicht wie erwartet, da ist nur Kälte und Elend. Und eine Stimme in mir drin, leise aber bestimmt, dass ich wieder aufstehen werde. Wenn die Zeit kommt, werden meine Knochen heilen und die Scherben zusammenwachsen.

Aber gerade jetzt, in diesem Moment, da liegt mein Innerstes völlig entblösst und verwundbar. Ich weiss nicht, was mich zusammenhält. Vielleicht sind es Dylans Umarmungen, das gute Zureden meiner Mutter (die noch immer nur die halbe Geschichte kennt), Riinas Anrufe oder ganz einfach meine Willenskraft. Auf jeden Fall kehre ich am nächsten Tag an die Uni zurück, obwohl ich eine mehr oder weniger schlaflose Nacht auf Dylans Sofa verbracht habe.

Nachdem ich mich bei ihm stundenlang über Alan ausgeheult und aufgeregt habe und er mir zahlreiche Male angeboten hat, ihn zu vermöbeln, hat Dylan schliesslich Miles damit beauftragt, mich in der Uni zu überwachen. Also bringt mich dieser nun von Seminar zu Seminar und hält mich dazwischen mit Kaffee am Leben.