Mein Körper hat den Takt endlich gefunden und bewegt sich rhythmisch über den Studioboden hin zu Eamon. Er empfängt mich mit erhobenem Kopf, dreht mich geübt auf seine Schulter und gleitet weiter. Die Töne aus der Musikanlage werden immer dringlicher, immer kräftiger, und umschlingen mein Herz.
Völlig im Moment gefangen und verzweifelnd um Eamons Leben kämpfend bewege ich mich durch den Raum, stosse die Luft bei einem kräftigen Sprung aus meiner Lunge und drehe mich wie von selbst um meine Achse. Die Musik drängt bis in mein tiefstes Inneres und bewegt mich automatisch, drängend, wunderschön. Das Gefühl ist unbeschreiblich.
Als die letzten Klänge verhallen und ich auf dem kühlen Boden liegen, Eamon über mir gebeugt, könnte man eine Nadel fallen hören. Nach Atem ringend schaue ich in die Augen meines Tanzpartners und erkenne, dass die Choreographie auch bei ihm endlich angekommen ist. Seine grossen, braunen Augen schauen mich noch völlig in seiner Rolle vertieft eindringlich an. Ich verziehe meine Lippen zu einem atemlosen Lächeln.
„Wow!", jauchzt Katie bei der Musikanlage und klatscht in die Hände. „Wahnsinn. Genau so!"
Eamon wird aus seinem Film gerissen, langsam richtet er sich auf und ich stehe neben ihn. Ich rage ihm gerade mal bis zur Schulter, aber er schaut so freundlich und beglückt zu mir herunter, dass er mir vorkommt, wie ein verschmitzter Junge.
„Leute, das war wirklich gut", lobt Katie weiter und kommt zu uns. „Endlich kann ich die Geschichte sehen. Bei beiden."
Glücklich, mit pochenden Armen und müden Beinen nehme ich das Lob und die wenigen Kritikpunkte entgegen und finde langsam meinen Atem wieder. Nachdem wir einige Stellen markiert haben und Katie uns beim gezielten Ausdehnen assistiert hat, verabschiedet sie sich von uns und verlässt strahlend das Studio.
Seit meinem kleinen Nervenzusammenbruch und der schlaflosen Nacht bei Alan ist bereits wieder eine Woche vergangen und ich finde langsam zu meinem alten Ich zurück. Meine Gedanken werden von Tag zu Tag klarer und mein Körper kann das Stressgefühl irgendwo in eine dunkle Ecke verbannen.
Aber für die Artistik beim Tanzen hat mir mein Kopfchaos so viel gebracht, wie sonst nichts. Auf einmal ist mir bewusst geworden, wie von einem Tag auf den anderen alles anders sein kann. Welche Dinge ich für selbstverständlich halte, obwohl sie mir jeden Tag weggenommen werden könnten. Der Schmerz dieses Bewusstseins, die nagende Angst vor der Zukunft und all den schmerzhaften Möglichkeiten, die sie bereithält, ist zu meiner Waffe geworden. Ich habe ihn dazu gemacht.
„Hast du auch Hunger? Wollen wir zusammen was essen?", reisst mich Eamon aus meinen Gedanken, als wir das Studio verlassen.
„Ich kann nicht", antworte ich entschuldigend und reiche ihm seine vergessene Wasserflasche. Er nickt dankbar. „Wir gehen heute Nachmittag klettern und ich muss gleich los."
„Klettern?", horcht mein stämmiger Tanzpartner neugierig auf. „Ich könnte nicht einmal mehr einen Sack Mehl heben, wenn ich wollte."
„Ich musste dich aber auch nicht den ganzen Morgen rumtragen", lache ich. „Eigentlich machst du ja die meiste Arbeit."
„Ach was", schüttelt er den Kopf, sodass seine offenen Locken um seinen Kopf sausen. „Das stimmt überhaupt nicht."
Ich lächle nur. „Ausserdem klettere ich nicht selbst. Hoffe ich zumindest. Ich schaue meistens nur zu."
Kurz bevor wir beide in die Umkleide treten, hält Eamon inne und dreht sich zu mir um. „Mit wem gehst du denn?"
„Alan und seinen Freunden."
„Und Alan ist...?"
„Ehm", stottere ich grinsend und weiss ehrlich nicht, was ich darauf antworten soll. Ist Alan mein Freund? Ein Freund? Ein Bekannter?
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Lila Lichter
Любовные романы"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...