Zwanzigstes Kapitel

28 1 0
                                    

Seit Stunden sitze ich auf meinem fürchterlich harten, holzigen Stuhl, umgeben von alten Büchern, die ihren ganz eigenen, verführerischen Duft verströmen. Seit Stunden quäle ich mich von einem Kapitel zum nächsten, bewaffnet mit Stift und Kaffee bis zum Abwinken. Und seit Stunden lese ich jede Stelle dreimal, weil mich tausende Gedanken von meinem Text ablenken.

Selbst wenn ich mich teuflisch auf die Buchstaben zu konzentrieren versuche, sehe ich in den Seiten nur Alans Gesicht. Das kantige Kinn, die leichte Ecke in seiner Augenbraue, die hellen Flecken in seinen wunderschönen blauen Augen. Ich sehe seine Hände, wie sie den Stein mit so viel Präzision anpacken, dass mich seine Bewegungen an einen Tanz erinnern.

Wieso muss es einem eigentlich immer gleich den ganzen Kopf zerwühlen, wenn man jemanden gut findet? Warum kann ich beim besten Willen an nichts Anderes denken, als an Alan? Ich streiche mit kalten Händen über mein erhitztes Gesicht. Dankbarerweise habe ich mich heute gegen jegliches Makeup entschieden.

Langsam dämmert es mir: Ich glaube, ich bin tatsächlich voll und ganz dabei, mich Hals über Kopf in Alan zu verlieben. Und das, obwohl ich ihn kaum kenne, obwohl er für mich noch immer absolut unberechenbar ist, obwohl er ein bisschen irre zu sein scheint. Oder vielleicht gerade deswegen.

Natürlich habe ich mir fast in die Hosen gemacht, als Alan die riesige Felswand ungesichert hinaufgeklettert ist. Ich war mir sicher, dass er runterstürzen und dabei sterben würde. Ich habe um sein Leben gebangt, zitternd und irgendwie wütend, dass er sich freiwillig solchen Risiken aussetzt. Aber wem mache ich was vor, natürlich beeindruckt mich seine Leidenschaft noch viel mehr, als sie mich erschreckt.

Seine Konzentration, die der Felsen regelrecht aufgesaugt hat, sein eiserner Wille, die Wand zu bezwingen. Seine Unbeirrtheit und Selbstsicherheit, die er noch viel stärker als je zuvor ausgestrahlt hat.

Ich merke, das meine Lippen sich zu einem Lächeln verzogen haben und lege schnell eine Hand vor meinen Mund. Willkürlich streiche ich eine Zeile in meinem Text an, obwohl ich keine Ahnung habe, was drin steht. Miles soll nicht merken, dass er der Einzige ist, der wirklich produktiv ist.

Sein dunkler Haarschopf bückt sich links von mir über ein dickes Sachbuch, das ihm irgendetwas über Recht und Ethik erklärt. Ich schiele zu ihm rüber, aber er scheint noch immer voll und ganz im Thema zu stecken. Obwohl ich froh bin, nicht alleine in der Bibliothek lernen zu müssen, verwünsche ich Miles' Leidenschaft für sein Jura-Studium. Was ich jetzt brauche, ist eine ausgiebige Snackpause mit meinem Sitznachbarn. Eine Möglichkeit, alles, was mir auf dem Herzen liegt, an ihn weiterzugeben. Mich jemandem anzuvertrauen.

Oder? Vielleicht ist aber meine Zeit mit Alan genau so wertvoll und kribbelnd, weil sie momentan noch mein Geheimnis ist. Natürlich wissen Riina und Skye von meinem Date, aber auch ihnen habe ich bisher keine Einzelheiten erzählt. Es fühlt sich so an, als würde jeder, der von unserer Zweisamkeit erfährt, den Zauber ein klitzekleines bisschen vernichten.

Ich seufze, absolut sicher, dass ich die nächsten dreissig Minuten nichts zustandebringen werde. Gerade bin ich mir bewusst geworden, wie sehr mich Alan tatsächlich einnimmt. Mich fasziniert, mich gefangen hält. Das muss ich erst einmal verdauen.

„Hast du Lust auf eine Kaffeepause?", flüstere ich Miles zu und tippe ihm an die Schulter. Er nickt, liest den Satz fertig, schreibt sich irgendwas auf und steht dann auf. Ich tue es ihm gleich, nehme meinen Beutel mit den Snacks und folge Miles nach draussen. Obwohl anfangs des Semesters vergleichsweise wenige Studenten die Bibliothek benutzen, fühlen wir uns hier drin immer belauscht. Stattdessen setzen wir uns im Gang in eine moderne, purpurne Sitzgruppe. Von dort aus hat man einen tollen Ausblick über die Brunnenanlage und im Sommer blühenden Blumenbeete rüber zum benachbarten Unigebäude. Die Sonne kommt nur zögerlich durch die Wolken, sodass der Betonboden zwischen den Gebäuden trostlos dunkel wirkt.

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt