Siebenundzwanzigstes Kapitel

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Der Wind ist mörderisch kalt und mein frierendes Herz hilft auch nicht, meinen Weg zum Pier zu wärmen. Selbst durch die Kapuze, die ich über die Mütze auf meinem Kopf gezogen habe, dringt er.

Meine Gedanken rasen. Eigentlich will ich Alan gar nicht sehen. Wenn ich ihn sehe, verschwimmen meine Gedanken immer zu einer wirren Masse. Aber einer schönen, wärmenden Masse. Zu einem warmen Kribbeln in meinem Bauch und auf meinen Wangen. Dieses Gefühl will ich nun nicht fühlen. Ich will einen klaren Kopf behalten.

Ich will mich nicht auf einen Junkie einlassen, so viel bin ich mir bewusst. Ich habe genug gehört und gelesen um zu wissen, dass ein Leben mit Drogenabhängigen sehr viel Schmerz, Wut, Aggression und Hoffnungslosigkeit mit sich bringt. Wie lang werde ich das mitansehen und einfach ignorieren können? Die Hoffnung, dass Alan meinetwegen einen anderen Lebensstil versuchen würde, habe ich nicht. Dazu bin ich zu realistisch.

Was will ich also? Es gibt nur entweder oder und doch schwebt da ein aber dazwischen, das ich mit aller Kraft zu erreichen versuche.

Trotz Sonnenhöchststand erreichen mich keine wärmenden Strahlen. Eine dicke Wolkendecke wird nur zaghaft von hellen Schleiern durchbrochen. Irgendwie stürmisch, obwohl es nicht nach Gewitter aussieht. Irgendwie schön.

In fünfzehn Minuten bin ich am endlos breiten Strand und heisse das beruhigende Meeresrauschen willkommen. Schnell ziehe ich die Kopfhörer aus meinen Ohren, um das Geräusch einzusaugen. Den salzigen Duft nicht nur zu riechen, sondern auch zu hören.

Aber ich bleibe nicht stehen. Zum alten, verbrannten Pier sind es wenige Minuten den steinigen Strand entlang. Die Steinchen knirschen unter meinen Füssen. Obwohl direkt oberhalb des Strandes eine Hauptstrasse verläuft, blende ich die Stattgeräusche aus. Das Meerwasser ist vom Wind aufgewühlt und trüb, aber hell. Ich mag es, wenn die kleinen Wellen sich wild überschlagen. Genau wie die Sprünge, die mein Herz gerade macht.

Vor dem Pier setze ich mich auf die Steinchen nieder. Alan ist noch nicht hier, zu meiner Erleichterung. Jede Sekunde, in der ich mich ihm noch nicht gegenüber sehe, gibt mir Zeit. Zeit, nicht darüber nachzudenken, was nach ihm kommt.

Obwohl ich mehrere Male kurz davor bin, abzuhauen, zwinge ich mich zum Bleiben. Und nicht allzu lange nach meiner Ankunft höre ich ein Knirschen hinter mir. Ich muss mich nicht umdrehen um zu wissen, wer es ist. Augenblicklich schlägt mein Herz schneller. Ich umarme meine Beine, meine Glieder fühlen sich an wie aus Gummi.

Ich schaue ihn nicht an. Alan setzt sich neben mich, wir berühren uns fast. Ich spüre die Wärme, die sein Körper ausstrahlt.

„Hi Sin", raunt seine Stimme ruhig. Ich erschrecke fast ab dem Klang. Wie kann ein Mensch mir gleichzeitig so vertraut und so fremd sein?

„Hi."

Ich spüre seinen Blick auf mir, kurz, prüfend. Dann guckt auch er dem Wasser zu und seufzt.

„Ist dir kalt? Sollen wir Kaffee holen?", fragt er nur.

Ich schüttle den Kopf. „Dir?"

„Nee, keine Sorge."

Wieder bleibt es einen Moment still. Ich durchlöchere mein Gehirn nach irgendeiner Frage. Einer Antwort. Irgendetwas, das solch ein Gespräch einführen kann. Immer wieder bringt mich seine Anwesenheit durcheinander, weniger denn je weiss ich, was ich eigentlich will. Kann ich nicht einfach über den ganzen Blödsinn hinwegsehen? Wie schön wäre es, die einfachste Option einzugehen und gar nicht erst ein Thema draus zu machen.

„Was willst du wissen?", reisst mich Alan aus meinen Grübeleien. Und nun drehe ich mich endlich ihm zu und mustere seinen fragenden Blick. Seine Augen leuchten leidenschaftlich, aber irgendwie auch traurig.

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt