Siebenundvierzigstes Kapitel

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Zwanzig Stunden später bekommt Alan eine Nachricht von Susis Bruder. Sie ist knapp und erklärt nur, dass Susi im Koma liegt und noch mehrere Operationen vor sich hat, die alle mehr oder weniger lebensbedrohlich sind. Zwischen den Zeilen kann man lesen, dass Susis Zustand mehr als kritisch ist. Es ist hoffnungslos. Irgendwie. Und dennoch können wir noch nicht aufgeben.

Mein Handy klingelt. Ich sitze auf Alans grauem Sofa, eine Tasse kalter Kaffee neben mir, leises Wasserrauschen ertönt. Nach zwanzig Stunden in denen Alan ständig völlig zugedröhnt und rastlos von Kumpel zu Kumpel gerannt ist und ich hier in seiner Wohnung auf ihn gewartet habe, um ihn aufzufangen, habe ich ihn endlich zu einer Dusche überreden können.

Auf dem Display erscheint Moms Bild. Lustlos nehme ich ab.

„Hi Mom", sage ich emotionslos.

„Sinia, Liebling, wie geht es dir?" Sie klingt besorgt, wie in allen Telefonaten seit dem Unfall.

„Ganz okay", erwidere ich, obwohl das nicht ganz zutrifft. „Mach dir um mich keine Sorgen."

„Natürlich mache ich das. Isst du auch etwas? Und wann kommst du denn endlich nach Hause?"

Ich seufze. „Alan braucht mich gerade, Mom. Ich komme zurück, sobald es ihm ein bisschen besser geht, versprochen. Spätestens am Wochenende, okay?"

„Vergiss nicht, dass du auch jemanden brauchst, an den du dich anlehnen kannst, Sinia. Nicht nur er. Willst du nicht doch nach Hause kommen? Du kannst ja morgen wieder zu ihm fahren."

„Mom, bitte fang nicht damit an", stöhne ich leise und energielos.

„Ich meine es doch nur gut."

„Ich weiss, Mom. Aber ich will hier sein, wirklich."

„Na gut. Wenn wir dir etwas bringen sollen, gib Bescheid."

„Danke."

„Esst ihr auch?"

„Ja", lüge ich. Alan bekommt sowieso kaum mehr was mit, und ich habe überhaupt keinen Appetit. Das Bild von Susi, seinen gebrochenen Gliedern, das Gefühl der Angst tief in meinen Knochen, die Panik – das alles hält mich vom Essen ab.

„Denk dran, dass du morgen Abend Tanzen hast", erinnert sie mich überflüssigerweise. „Hast du vor, dahin zu gehen? Ich glaube, dass es dir guttun würde. Da du schon alle Unisachen abgesagt hast."

„Ja, ich gehe", antworte ich knapp. Die zwei Stunden wird Alan ohne mich auskommen.

Die Sorge meiner Mutter tut zwar gut, ihre Stimme zu hören und zu wissen, dass ich nicht alleine bin. Aber ich bin viel zu aufgewühlt, reisse mich so sehr zusammen, dass ich nur wieder zusammenbrechen würde, wenn ich sie sähe. Ihre sicheren Arme wären im Moment mein Untergang.

Ausserdem will ich Alan auf keinen Fall alleine lassen. Die letzten Stunden waren so herzzerbrechend, ihn so verloren und am Ende zu sehen, lässt meinen Schmerz der vergangenen Wochen verblassen. Dass es so dunkel hätte kommen können, hätte ich nie gedacht. Dass mir so etwas passiert, nein.

Ich fühle mich hilflos. Als meine Mutter endlich auflegt, bleibe ich einfach reglos sitzen und starre in den kahlen Raum. Alles scheint so kaputt, so zerbrochen und unheilbar. Als hätte jemand mit einem Hammer in unser gläsernes Leben geschlagen. Und die Splitter liegen überall, schneiden unsere dünne, zarte Haut auf, um in unser Innerstes zu dringen.

Ein Teil von mir wünscht sich, Alan zu heilne. Ihm die Drogen wegzunehmen, ihn im Arm zu halten, bis er sie nicht mehr braucht. Meinen liebsten Menschen so völlig abwesend zu sehen, vergrössert meinen Schmerz um ein hundertfaches. Aber ich erlaube mir nicht, egoistisch zu sein. Nicht jetzt. Alan genau jetzt von seinem Beruhigungsmittel abzuhalten, würde nicht fruchten, es würde uns auseinanderbrechen.

Diese Erkenntnis rüttet an meinem Herzen. Alan und ich – der Faden, der uns zusammenhält, er ist so unglaublich dünn. Ein scharfes Wort, ein Splitter, und wir sind für immer zertrennt.

Als Alan mit triefend nassem Haar und barfuss ins Zimmer tritt, schrecke ich aus meiner Starre. Obwohl es draussen trüb und gewittrig ist, haben wir kein Licht angeknipst. Stattdessen hocke ich in Jogginghose im Halbdunkeln.

Ohne ein Wort legt sich Alan auf die Couch und bettet seinen Kopf in meinen Schoss. Er schaut mich nicht an. Ich könnte losheulen.

Stattdessen streichle ich mit einer Hand über seine nasse Stirn, durch sein tropfendes Haar. Er starrt in die Luft, seine Augen sind rot und traurig. Ich fahre mit einer Fingerspitze über seine Augenlieder. Seine Haut ist so weich und warm, in ihm steckt so viel Leben.

Ich weiss nicht wie lange er da liegt. Irgendwann schläft er ein und ich mustere seine wunderschönen Züge. Für nichts in der Welt würde ich diese jemals eintauschen. Für sie würde ich alles tun, alles stehen und liegen lassen, alles durchstehen.

Den nächsten Tag verbringen wir damit, dass ich ihm etwas vorlese, er uns freudlos Tee kocht oder wir einfach nur da liegen und beide in unseren eigenen Welten schweben. Kurz bevor ich ins Studio aufbrechen muss kommen Stanley, Freddy und Alex in die Wohnung. Noch bevor ich mich verdrücken kann, haben sie sich irgendetwas eingeschmissen. Am Boden zerstört mache ich mich vom Acker und trete mit klammen Händen in die milde, frische Luft nach draussen.

Lila LichterWo Geschichten leben. Entdecke jetzt