Ich kneife verschlafen ein Auge auf und spüre sofort jeden schmerzenden Muskel in meinem Körper. Ein leises Gähnen entfährt mir. Obwohl Alans Arm unter mir liegt, strecke ich alle meine Glieder bis in die Zehenspitzen. Dann reibe ich meine Augen wach.
Alans verstrubbelter Haarschopf ist in einem Kissen vergraben. Ich drehe mich langsam und darauf bedacht, ihn nicht zu wecken, zu ihm um und studiere seine Gesichtszüge. Schlafend sieht er so friedlich und unschuldig aus, dass ich mich am liebsten an seine Wange schmiegen würde. Ich widerstehe dem Drang, ihm eine lange, blonde Strähne aus dem Gesicht zu streichen.
Pures Glück strömt durch meine Adern. Neben Alan aufzuwachen, ist das Schönste, das ich mir vorstellen kann. Ich lege meine Wange auf seinen Arm unter mir. Der schwache Duft seiner Haut strömt in meine Nase und ich fühle mich einfach zuhause. Am liebsten würde ich für immer neben ihm liegen und in Glückswolken schweben.
Nach einer Weile stehe ich dennoch vorsichtig auf. Das Tageslicht strömt durch das dreckige Fenster von Alans Wohnung. Barfuss und nur in einem weiten Shirt tapse ich über den kühlen Boden zum Badezimmer. Obwohl ich ausgeschlafen bin, entdecke ich dort im kleinen Spiegel Augenringe unter meinen Augen. Dennoch kann ich mich nicht überwinden, meinen Schminkbeutel aus meiner Tasche zu holen. Stattdessen binde ich meine Haare zu einem unordentlichen Dutt zusammen und schleiche in die kleine, überfüllte Küche. Ich finde Orangensaft und schenke mir ein Glas ein.
Mit einem Buch verdrücke ich mich an den kleinen Tisch in der Küche und lese. Immer wieder glaube ich, Geräusche zu hören und freue mich insgeheim darauf, Alan verschlafen in die Küche treten zu sehen. Aber nichts dergleichen passiert. Irgendwann bin ich so in meinem Buch versunken, dass ich sein Eintreten gar nicht mehr wahrnehme.
„Morgen", reisst er mich aus meinem Fokus und grinst mich halb gähnend an.
„Hi", grinse ich zurück und lege den Kopf schief. „Gut geschlafen?"
Anstelle einer Antwort kommt er zu mir, beugt sich zu mir hinab und küsst mich. Das freudige Kribbeln setzt sofort wieder ein. Daran könnte ich mich gewöhnen.
„Sehr", antwortet er und richtet sich wieder auf. „Und du?"
„Auch. Du warst ein gutes Kissen."
„Ach, deshalb spürte ich erst meinen Arm nicht", begreift er und macht sich daran, einen Kaffee zu brühen.
Grinsend lege ich mein Lesezeichen in mein Buch und lege es zur Seite. Alans langer Körper verdreht sich und seine wachsamen Augen gucken mich neugierig an.
„Was liest du?"
„Einen viktorianischen Roman", antworte ich ausweichend. „Ich muss eine Arbeit über ein viktorianisches Werk meiner Wahl schreiben."
„Klingt schwierig."
„Naja, Romane sind im Gegenteil zu anderen Büchern eigentlich recht simpel", erkläre ich obwohl ich nicht glaube, dass es ihn wirklich interessiert. „Aber es hat eine Weile gebraucht, bis ich mich an den Schreibstil gewöhnt habe."
„Das glaube ich dir", erwidert er und nimmt zwei Tassen vom Abtropfbrett. Sein Geschirr wird prinzipiell nie in die Schränke geräumt. „Um was geht es?"
Erstaunt über sein ehrliches Interesse erzähle ich ihm vom feministischen Grundgedanken des Buches. Er hört mir zu und nickt kurz, als ich zu Ende erzählt habe.
„Nicht schlecht", meint er und setzt sich zu mir. „Nicht, dass ich jemals eine Arbeit dazu schreiben könnte."
„Ich weiss, du findest das bestimmt langweilig."
Er zuckt mit den Schultern. „Aber dich interessiert es. Und ich mag es, wenn du über deine Bücher sprichst."
„Wieso?", frage ich lachend.
„Weil du darin irgendwie aufgehst. Genau wie wenn du übers Tanzen sprichst."
Ich lache, weiss nicht, ob das ein Kompliment oder einfach eine Feststellung ist. Ich ziehe meine nackten Beine an meinen Körper und schlinge meine Arme darum.
„Und dass du so viel in deinem Köpfchen hast, macht dich sexy", fügt er nach kurzem Überlegen hinzu. Ich bin mir absolut sicher, dass ich rot anlaufe.
„Wirklich?", frage ich grinsend.
Er nickt und steht wieder auf, um den Kaffee einzugiessen. Dann überreicht er mir eine Tasse mit viel Milch.
Ist das der Grund, wieso er mich ausgewählt hat? Ausgerechnet mich? Weil ich etwas im Köpfchen habe? Das wusste er allerdings nicht von Anfang an.
„Alan?", frage ich, als er einen Schluck trinkt.
„Hm?" Seine wunderschönen, im schwachen Tageslicht glänzenden Augen mustern mich.
„Kann ich dich was fragen?"
Er nickt.
„Was war der Grund, wieso du dich für mich interessiert hast? Am Anfang meine ich", sage ich etwas unsicher. Obwohl er mir inzwischen so vertraut ist, wie kaum jemand, fällt es mir immer noch schwer, solche tiefen Gespräche anzufangen.
„Wann meinst du?"
„Als wir uns kennenlernten."
Er überlegt nur einen winzigen Moment und schüttelt dann den Kopf. „Ich weiss nicht."
Ich antworte nichts, trinke vorsichtig einen Schluck des heissen Getränks. Vielleicht ist das eine dumme Frage. Nur weil es in Filmen und in meinen Büchern immer einen trieftigen Grund gibt, wieso ein Mann gerade eine bestimmte Frau mag, bedeutet das noch lange nicht, dass es in der Realität so sein muss. Trotzdem hätte sich ein kleiner Teil in mir gewünscht, dass er etwas Besonderes in mir sieht. Romantik-Dusselei.
„Wieso meinst du?", will Alan nach einer Weile wissen.
„Nur so."
„Nur so?"
„Ja. Manchmal frage ich mich, wie das mit uns überhaupt passiert ist."
„Wirklich?"
„Ja", antworte ich nur. Ist es so seltsam, dass man sich solche Fragen stellt? Ich wage gar nicht erst, nachzufragen, was wir überhaupt sind.
„Spannend, irgendwie", stellt Alan fest und stützt seine Ellenbogen auf der Tischplatte ab. „Was denkst du denn?"
„Nichts", sage ich ausweichend, weil ich nicht als Einzige darauf antworten will.
„Sag schon", stichelt er mich an und seinen neugierigen Augen kann ich nicht wiederstehen.
„Am Anfang war da einfach Neugier und du warst irgendwie ein grosses Geheimnis. So unergründbar."
„Mmh", murmelt er mit erhobenen Augenbrauen und lacht dann. „Ich habe deinen Jagdinstinkt geweckt."
„Sowas in der Art."
„Und als du das Geheimnis gelüftet hast?", will er nun wissen, doch ich genehme ihm die Genugtuung nicht.
„Habe ich das?", grinse ich ihn schelmisch an.
Er bleibt stumm, grinst aber breit zurück. Eine Weile lang sitzen wir nur da, trinken unseren Kaffee, saugen die Blicke des Anderen ein, plaudern über belanglose Dinge. Dann, wie vom Blitz getroffen, steht er auf und will klettern gehen.
„Aber nicht am üblichen Spot. Lass uns östlich an die Klippen fahren", schlägt er begeistert vor.
„An die Klippen?", frage ich verwirrt. „Aber an den Klippen kannst du nicht klettern."
„Und ob", sagt er plötzlich extrem vorfreudig.
„Über dem Wasser? Und was, wenn du fällst? Wirst du dann nicht zwischen Wasser und Stein zermalmt?", will ich entsetzt wissen. Der Kaffee in meinem Magen wird schwer.
„Ich falle aber nicht, schon vergessen", grinst er, bevor er sich umzieht.
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Lila Lichter
Romance"Ich hadere mit mir. Tue es unbewusst wahrscheinlich schon länger. Es hat sich langsam und quälerisch in mein Bewusstsein geschlichen, ohne Vorwarnung, rücksichtslos. Und nun beherrscht es mein Wesen, all meine Gedanken. Ich hätte es kommen sehen so...